Rückenschmerzen Bandscheibenvorfall – wann muss operiert werden?

Rund 180.000 Menschen erleiden in Deutschland jährlich einen Bandscheibenvorfall. Nur in wenigen Fällen ist eine Operation nötig. Wie die Heilung verläuft, hängt stattdessen auch mit der Persönlichkeit des Patienten zusammen. Wir haben mit Sebastian Katscher, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, über den Zusammenhang zwischen Rückenleiden und Psyche gesprochen und darüber, wie man seine Bandscheiben am besten schützt.

Bandscheibenvorfälle treten am häufigsten im Bereich der Lendenwirbelsäule auf. Warum gerade dort?

Dr. Katscher: Die menschliche Wirbelsäule ist an den aufrechten Gang angepasst. Das bringt es mit sich, dass von oben nach unten immer mehr Körpergewicht auch von den Bandscheiben getragen werden muss. Die Natur hat die Bandscheiben deshalb von oben nach unten – von der Halswirbelsäule bis zur Lendenwirbelsäule – immer breiter, höher und größer werden lassen. Dort, wo Bewegung, Last und Krümmung der Wirbelsäule besonders stark sind, also in der unteren Lendenwirbelsäule, kann dieses biomechanische System auch mal versagen und ein Bandscheibenvorfall entstehen.

Falsche Sitzhaltung, Bewegungsmangel, hohe körperliche Belastung: Gibt es "schlechte Gewohnheiten", die einen Menschen für einen Bandscheibenvorfall prädestinieren?

Dr. Katscher: Ja, selbstverständlich! Übergewicht, einseitige Belastungen, vorgebeugte Fehlhaltungen und unangemessene, muskulär nicht kompensierte Anstrengungen können zu einer Überlastung der Bandscheiben führen. Auch eine Beeinträchtigung des Bandscheibenstoffwechsels durch übermäßigen Nikotinabusus, also Rauchen, ist als schädigend anzusehen.

Studien zufolge macht es – über einen Zwei-Jahres-Zeitraum geschaut – kaum einen Unterschied, ob ein Bandscheibenvorfall operiert wird oder nicht. Woran macht man die Entscheidung fest? Oder anders: Wann muss definitiv operiert werden?

Dr. Katscher: Den Unterschied machen einerseits Lähmungen und andererseits die Dauer schmerzbedingter Funktionsstörungen. Eine dringende oder notfallmäßige Operation ist nur sehr selten notwendig. Das beschränkt sich auf Fälle, in denen das Rückenmark oder die Nerven durch den Bandscheibenvorfall so stark gequetscht sind, dass es zu schweren Lähmungen oder Einschränkungen der Schließmuskelfunktion von Darm und Harnblase kommt. Bei leichten Kraftminderungen, Gefühlsstörungen und auch bei alleinigen Schmerzen muss zunächst nicht operiert werden. Meist hilft hier die sogenannte konservative Therapie, also Physiotherapie und Medikamente, innerhalb weniger Wochen so gut, dass eine Operation nicht notwendig ist. Bestehen aber starke Schmerzen und dadurch bedingte Fehlhaltungen oder Kraftminderungen über mehr als sechs bis zehn Wochen ohne wesentliche Linderung, ist eine Operation auf jeden Fall sinnvoll. Das Ziel ist hier das Vermeiden einer sogenannten Schmerzchronifizierung, einer Verselbständigung des Schmerzes.

Zunehmend entsteht ein Bewusstsein dafür, dass die Psyche bei Rückenbeschwerden eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt. Können Sie das bestätigen?

Dr. Katscher: Absolut. Die Psyche spielt für die Heilung und insbesondere für den längerfristigen Beschwerdeverlauf und das Ergebnis nach Bandscheibenvorfällen eine entscheidende Rolle. Die Aufgabe der Ärzte und Therapeuten besteht darin, die Patienten in ihren eigenen Ressourcen zu unterstützen und sie zu bestärken, den Heilungsprozess aktiv mit anzugehen. Ängste, Depressionen, psychische oder berufliche und familiäre soziale Stressfaktoren stehen in diesem Zusammenhang einer Heilung und langfristigen Beschwerdelinderung oft im Wege. Es ist also wichtig, diese Faktoren nicht zu ignorieren, sondern zu kennen und gemeinsam mit den Patienten hier nach Lösungen zu suchen und diese zu finden.

Ihre Erfahrungen: Ist die Persönlichkeit eines Menschen, seine psychosozialen Umstände, ein Indikator dafür, wie der Heilungsprozess vonstatten geht?

Dr. Katscher: Ja, das kann man schon so sagen. Optimistische, aktive und selbstbewusste Menschen, die ein solides und bestärkendes soziales Umfeld aufweisen, haben es auch bei Bandscheibenerkrankungen leichter, akute Einschränkungen zu kompensieren, sie unter aktiver Beteiligung zu überwinden und mit gegebenenfalls bleibenden Folgen zurechtzukommen. Aber auch Menschen, die mit schlechteren Karten an den Start gehen, haben gute Chancen auf Heilung, wenn sie sich nicht von Stressfaktoren wie beruflichem, familiärem oder finanziellem Druck völlig dominieren lassen, diese den Behandlern jedoch nicht verschweigen und offene Ohren finden.

Ließe sich ein Bandscheibenvorfall in manchen Fällen verhindern?

Dr. Katscher: Verhindern nein, die Wahrscheinlichkeit für einen Bandscheibenvorfall lässt sich aber schon reduzieren.

Wie kann ich meine Bandscheiben schützen?

Dr. Katscher: Ausgewogene Ernährung, das Verhindern starken Übergewichts, Verzicht auf Rauchen und Vermeiden von Überlastungen, für die die jeweilige Person nicht ausreichend trainiert ist, schützen die Bandscheiben. Zudem ist körperliche Betätigung, die einen Ausgleich zu einseitigen z. B. berufsbedingten Belastungen schafft, unbedingt zu empfehlen. Ein regelmäßiges Training der rumpfstabilisierenden Muskulatur in Form von Kraftaufbau, Dehnung und Koordinationstraining sowie generell sportliche Betätigung, die idealerweise gleichzeitig Freude bereitet, tragen über den Mechanismus der Lastverteilung wesentlich zur Entlastung der Wirbelsäule und somit der Bandscheiben bei.

Stichwort: Bandscheiben und Bandscheibenvorfall

Entlang der Wirbelsäule befinden sich 23 Bandscheiben, die wie kleine, elastische Polster zwischen den knöchernen Wirbelkörpern liegen. Sie sind bei einem gesunden Erwachsenen jeweils etwas über einen Zentimeter hoch. In ihrem Inneren speichern sie Wasser und haben daher einen gelartigen Kern. So können sie den Druck auf die angrenzenden Wirbel perfekt ausgleichen und Stöße abpuffern.

Nachts saugen die Bandscheiben im Liegen Flüssigkeit aus dem umgebenden Gewebe und füllen die Speicher wieder auf. Tagsüber verlieren sie beim Sitzen und Stehen wieder einen Teil der Flüssigkeit und schrumpfen zusammen. Deshalb sind wir morgens nach dem Aufstehen meist etwas größer als am Abend. Außerdem wirkt die Bandscheibe zwischen den Wirbeln wie eine Gleitschicht, die das Bewegen der Wirbelsäule erst ermöglicht, und sie schafft den nötigen Abstand zwischen den Wirbelkörpern, damit Nerven und Rückenmark funktionstüchtig sind. Der Kern der Bandscheibe ist umgeben von einer dicken Hülle aus Bindegewebe.

Beim Bandscheibenvorfall bricht diese Hülle auf und die Flüssigkeit tritt teilweise oder ganz aus dem Inneren aus. Dann drückt die Bandscheibe auf die angrenzenden Nerven und das Rückenmark, was starke Schmerzen, Taubheit und Lähmungserscheinungen verursachen kann. 

Risikofaktoren – Bedrohung für gesunde Bandscheiben

Wie schnell oder langsam sich unsere Bandscheiben abnutzen, ist genetisch bedingt. Doch wir können einiges tun, um die Abnutzung aufzuhalten und die Bandscheiben bei ihrer Arbeit zu unterstützen.

Der größte Risikofaktor ist Übergewicht, vor allem am Bauch. Bandscheibenprobleme treten nämlich bei Übergewichtigen etwa doppelt so häufig auf wie bei schlanken Menschen. Dass liegt daran, dass der Rücken permanent gegen das Ungleichgewicht ankämpfen muss. Dadurch kommt es zu einer dauerhaften Fehlhaltung, die die Wirbelsäule und die Bandscheiben stark beansprucht.

Rauchen schädigt langfristig ebenfalls die Bandscheiben, da es den Stoffwechsel und den Austausch von Nährstoffen ungünstig beeinflusst.

Flüssigkeitsmangel bekommt den Bandscheiben nicht gut. Steht in dem Gewebe, das sie umgibt, nicht genug Wasser zur Verfügung, können sie ihre Speicher nicht auffüllen. Deshalb immer genügend trinken!

Auch das Altern setzt den Bandscheiben zu, denn sie verlieren mit den Jahren an Elastizität. Die Hülle wird spröder und reißt schneller. Eine kräftige Stützmuskulatur hilft auch hier weiter, denn sie stärkt die Bandscheiben und kann Schäden verhindern.

Mögliche nicht-operative Therapien bei einem Bandscheibenvorfall

Nach einem akuten Bandscheibenvorfall wird meist mit einer Kombination von Physiotherapie und Schmerzmedikamenten behandelt. Erst wenn Taubheit, Lähmung oder etwa Ausfallerscheinungen eines Beines drohen, kann in schweren Fällen eine Operation sinnvoll sein. Bei alldem spielt auch der Faktor Zeit eine große Rolle: Je länger die Nerven eingeengt sind, umso höher ist das Risiko für bleibende neurologische Schäden. Doch es steht eine große Auswahl an konservativen, also nicht-operativen Therapien zur Auswahl.

Manualtherapie
Bei der Manualtherapie versucht der Physiotherapeut, mit geübten Handgriffen mechanisch Platz zwischen den einzelnen Wirbeln zu schaffen. Das sorgt wieder für etwas Abstand und lindert die Schmerzen.

Cortisontherapie
Um Schmerzen und vom Bandscheibenvorfall hervorgerufene Entzündungsreaktionen am Nerv zu stillen, werden unter Röntgenkontrolle Cortison- und Schmerzmittel direkt an die eingeengte Nervenwurzel gespritzt (Periradikuläre Therapie, kurz PRT). Die Spritzen beruhigen die Nerven und lindern die Entzündung, Schwellungen klingen ab.

Muskelentspannung
Mit Rückenschmerzen gehen häufig stark verspannte Muskeln einher, was die Schmerzen oft noch verschlimmert. Medikamentöse Muskelrelaxantien in Form von Tabletten können dagegen helfen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.

Wärmetherapie
Auch Wärme hilft, verkrampfte Muskeln zu lockern. Wärmsalbe, Wärmepflaster oder ein heißes Bad sind dafür gut geeignet.

Krankengymnastik
Trotz Schmerzen gilt es, in Bewegung zu bleiben. Obwohl früher häufig Bettruhe und Schonung verordnet wurde, weiß man heute, dass Bewegung und ein moderates Training die Beschwerden schneller lindern. Eine starke Stützmuskulatur des Rückens unterstützt die Funktion der Bandscheibe und regt den Stoffwechsel an. Die Bandscheibe kann dann auch wieder besser Flüssigkeit und Nährstoffe aufnehmen.

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Quelle:

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Hauptsache Gesund | 18. März 2021 | 21:00 Uhr

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