Eine junge Frau nimmt eine Tablette bei der Arbeit.
Aufputschmittel wie Amphetamine und Ephedrine haben ein sehr hohes Suchtpotenzial. Bildrechte: imago images / Panthermedia

Abhängigkeit auf Rezept? Medikamentensucht erkennen und behandeln

14. April 2022, 10:30 Uhr

Bei Abhängigkeit denken viele an harte Drogen. Es gibt aber auch die stille Sucht nach auf Rezept nach Medikamenten wie etwa Schmerz- oder Schlafmitteln. Häufig bemerken Betroffene gar nicht mit, wann sie in die Abhängigkeit rutschen. Welche Warnsignale es gibt und wie man sich von der Sucht befreien kann, weiß Mediziner Dr. Thomas Dietz.

Medikamente können Krankheiten verhindern, lindern oder heilen. Werden jedoch bestimmte Substanzen zu lange eingenommen, können sie abhängig und damit krank machen. Nach Schätzungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) sind ca. 1,5 bis 1,9 Millionen Menschen hierzulande medikamentenabhängig.

Viele Menschen missbrauchen Medikamente, indem sie zu oft zu viele oder die falschen Arzneimittel einnehmen. Wie viele Betroffene "nur" Missbrauch betreiben – was auch gesundheitsschädliche Folgen hat – und an der Grenze zur echten Abhängigkeit stehen, ist völlig unklar, da es sich um eine stille Sucht handelt: Im Zweifel muss man aber davon ausgehen, dass dieses Verhalten eher zunehmend ist.

Das eigene Wohlbefinden beeinflussen

Medikamentenmissbrauch fängt dort an, wo mit Hilfe von Medikamenten versucht wird, das eigene Wohlbefinden zu beeinflussen und Tiefschläge des Lebens auszublenden. Dabei ist der Übergang vom Missbrauch zur Abhängigkeit fließend.

Wenn eine Patientin oder ein Patient ein Medikament zwanghaft schluckt, sprechen Expertinnen und Experten meist von Abhängigkeit. Dies kann damit beginnen, dass Arzneien gegen körperliche und psychosomatische Beschwerden, wie zum Beispiel Unruhe oder Angst verschrieben werden. Die Situation bessert sich nach der Einnahme erst mal. Lässt die Wirkung einer Substanz jedoch nach, kommt es häufig zum Wiederauftreten der Symptome.

Wie erkennen Angehörige eine Abhängigkeit?

  • Sie sollten aufmerksam werden, wenn sich jemand zurückzieht und immer mehr Medikamente selbst kauft, sich von verschiedenen Ärzten Medikamente verschreiben lässt oder Präparate in mehreren Apotheken kauft, um nicht aufzufallen.
  • Psychische Symptome einer Abhängigkeit sind z. B. Interessenverlust, Stimmungsschwankungen, Gleichgültigkeit, ängstliche Unruhe und Spannung.
  • Zu den körperlichen Symptomen gehören Schläfrigkeit, Stürze, neurologische Ausfälle, Schwitzen, Übelkeit und Gewichtsverlust, aber auch Gewichtszunahme, vor allem unter Benzodiazepinen.
  • Häufig macht sich die Abhängigkeit erst so richtig bemerkbar, wenn das Mittel abrupt abgesetzt wird. Das kann zufällig passieren, weil z. B. das Medikament im Urlaub vergessen wurde oder bei einem Krankenhausaufenthalt. Dann treten akute Entzugssymptome auf.

Welche Medikamente machen abhängig?

Der größte Teil der Medikamente, die abhängig machen, kann in folgende Gruppen eingeteilt werden:

Tranquilizer (Beruhigungsmittel, typischerweise Benzodiazepine): Diese Psychopharmaka helfen bei Erregungs-, Spannungs- und Angstzuständen, ohne dass sie Leistungsfähigkeit und Denkvermögen beeinträchtigten. Jedoch führen sie leicht zu einer "Low-dose-Abhängigkeit", die bereits nach drei bis vier Wochen eintreten kann. Das Missbrauchspotenzial von Schlafmitteln ist dabei höher, da sie meist in höherer Dosierung als Beruhigungsmittel verschrieben werden.

Opiate und Opioide (Morphium) haben eine Schmerzhemmende, beruhigende und mitunter auch aufputschende Wirkung. Immer höhere Dosen sind nötig, um das innere Gleichgewicht zu erhalten und Entzugserscheinungen zu verhindern. Dies führt im fortgeschrittenen Stadium zu Schlaflosigkeit, Abmagerung, Impotenz, Koordinations- und psychischen Störungen. Durch die richtige Anwendung kann dieses Risiko jedoch reduziert werden. Für einen "echten" Schmerzpatienten mit Opioiden liegt bei sachgemäßer Anwendung dieser Substanzen die Gefahr, eine Abhängigkeit zu entwickeln bei 1:1.000, d.h. sie ist sehr gering.

Nichtopioide Schmerzmittel: Werden rezeptfreie Mischpräparate mit den Wirkstoffen wie Acetylsalicylsäure, Paracetamol oder Ergotamin zu lange eingenommen, besteht die Gefahr eines Dauerkopfschmerzes, der ausschließlich auf diese Medikamente zurückzuführen ist. Das Risiko ist jedoch minimiert, wenn nicht mehr als zehn Tabletten monatlich geschluckt werden.

Hustenblocker (Antitussiva): Vor allem Mittel, die Codein enthalten, machen relativ schnell psychisch und physisch abhängig.

Aufputschmittel (Psychostimulantien): Psychostimulantien wie Amphetamine und Ephedrine haben ein sehr hohes Suchtpotenzial. Sie verdrängen Müdigkeit und Erschöpfung, steigern die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit sowie das Selbstvertrauen. Außerdem unterdrücken sie das Hungergefühl. Die Dosis muss ständig erhöht werden, um Entzugserscheinungen zu vermeiden. Bei chronischem Missbrauch schlägt die anfängliche Euphorie in Gereiztheit, Gespanntheit und Verstimmungen um. Die Appetitzügler basieren auf derselben chemischen Struktur und zeigen ähnliche Folgen wie Aufputschmittel.

Missbrauch von Arzneimitteln erkennen

Eine Medikamentenabhängigkeit zu erkennen, ist nicht einfach, da die Betroffenen in der Regel lange relativ unauffällig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und sich nichts anmerken lassen. Ein Arzneimittelmissbrauch bedeutet, dass Medikamente nicht zur Behandlung erkennbarer Beschwerden eingesetzt werden, sondern zur Beeinflussung des eigenen Wohlbefindens. Typische Hinweise sind:

  • Dosissteigerung: Das Medikament wird länger oder in höherer Dosis eingenommen als verordnet.
  • Fixierung: Ähnlich wie bei einer Alkoholabhängigkeit dreht sich das Leben des Betroffenen ausschließlich um das Medikament. Sie können sich nicht mehr vorstellen, die Einnahme zu reduzieren oder zu beenden.
  • Indikationserweiterung: Die Betroffenen nehmen die Medikamente über die Verordnung hinaus ein, zum Beispiel Schlafmittel zur Beruhigung.
  • Verheimlichen: Medikamentenabhängige lassen sich die Arzneimittel von verschiedenen Ärztinnen oder Ärzten verschreiben oder kaufen sie sogar illegal.

Mögliche Folgen von Arzneimittelmissbrauch

Erhöhte Unfallgefahr besteht durch:

  • Gleichgewichtsstörungen (Sturzrisiko)
  • verminderte Reaktionsfähigkeit im Straßenverkehr
  • erhöhte Risikobereitschaft

Zu den körperlichen Folgen zählen:

  • Gleichgewichts-, Bewegungs-, Konzentrations- und Sprachstörungen
  • Organschäden, zum Beispiel Magenerkrankungen, Leberschäden, Nierenversagen
  • Atemlähmungen (bei Überdosierung von Schmerzmitteln)

Als seelische Folgen können auftreten:

  • Interessenlosigkeit und Verflachung der Gefühle
  • Persönlichkeitsveränderungen
  • Stimmungsschwankungen
  • Gedächtnisstörungen
  • paradoxe Reaktionen
  • Depressionen
  • Ängste

Wege aus der Sucht

Der Weg aus der Sucht ist individuell verschieden,  er lässt sich in folgende Schritte einteilen:

Hilfe suchen: Betroffene können sich an eine Selbsthilfegruppe, Suchtberatungsstelle, einen kompetenten Hausarzt, Psychiater oder eine Neurologin wenden. Bei einem ersten Gespräch muss der Patient oder die Patientin meist offenlegen, welche Medikamente er über welche Zeitspanne eingenommen hat und wie seine soziale Situation ist. Dann wird gemeinsam über das weitere Vorgehen nachgedacht.

Möglich sind ambulante oder stationäre Behandlungsverfahren. Ohne den aufrichtigen Willen, etwas zu ändern, geht nichts. Wenn die Abhängigen von Familie, Freunden oder Arbeitskollegen unterstützt werden, hilft dies manchmal sehr.

Entgiftung: Jetzt gilt es, die jeweiligen Medikamente abrupt abzusetzen oder Schritt für Schritt, je nach Substanzklasse. Der Arzt oder die Ärztin begleitet diese Phase, da es beim Entzug zu gravierenden Problemen kommen kann, wie Angstattacken, Unruhe, Schlafstörungen, Kreislaufzusammenbrüche und Psychosen. Weil sich viele Wirkstoffe im Fettgewebe ablagern und in den Nervenstoffwechsel eingreifen, kann es im Einzelfall relativ lange dauern, bis die Wirksubstanzen aus dem Körper entfernt sind. Die Faustregel lautet: Einen Monat pro Einnahmejahr können die Entzugssymptome auftreten, sie müssen aber nicht so lange anhalten.

Entwöhnung: Relativ bald nach der Entgiftung setzt die Entwöhnungsphase ein. Abhängige lernen nun, sich auch psychisch von einem Medikament zu lösen. Hierfür gibt es in den Kliniken gesprächstherapeutische Angebote, kreative Techniken wie Malen sowie Körpertherapie, Entspannungstechniken, Angstgruppen und vieles andere. Diese Entwöhnungstherapie kann auch ambulant erfolgen. Sie dauert ein bis eineinhalb Jahre

Eine junge Frau sitzt auf dem Boden
Entspannungstechniken können bei er Entwöhnung helfen. Bildrechte: imago images / Westend61

Nachsorge: Im Anschluss an den Klinikaufenthalt oder einen ambulanten Entzug ist eine Nachbetreuung durch eine ambulante Suchtberatungsstelle, einen niedergelassenen Psychotherapeuten oder eine niedergelassene Psychotherapeutin sehr wichtig.

In dieser ersten Zeit geht es vor allem darum, neues Verhalten unter Alltagsbedingungen zu festigen. Dabei kann der Austausch mit Menschen, die gleiche oder ähnliche Erfahrungen gemacht haben, helfen.

Hinweise für Patientinnen und Patienten

Viele Menschen wissen nicht genau, was ihnen an Medikamenten verschrieben wird und sie scheuen sich, Fragen zu stellen. Das muss sich ändern: Fragen Sie Ihre Ärztin oder Ihren Arzt nach den Medikamenten, die Sie nehmen sollen, lassen Sie sich fachkundig beraten und über mögliche Risiken aufklären.

ein Arzt im Patientengespräch
Stellen Sie immer Fragen zu den Medikamenten, die Sie verschrieben bekommen. Bildrechte: imago images/Panthermedia

Die folgenden Fragen können Ihnen helfen, dies gemeinsam zu klären:

  • Welches Medikament nehme ich denn da ein?
  • Welche Risiken gehen von der Einnahme in der angegebenen Dosis und Dauer aus?
  • Können unerwünschte Wirkungen dabei auftreten?
  • Welche alternativen Medikamente gibt es zur Behandlung der Beschwerden?
  • Warum ist genau dieses Medikament für mich geeignet?
  • Gibt es mögliche alternative Behandlungsformen für meine Beschwerden?

Quelle: MDR um 4

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR um 4 | 14. April 2022 | 17:00 Uhr

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