Interview mit Psychologin Leben zwischen extremer Weltlage und Verzicht: Was macht das mit uns?

12. November 2022, 05:00 Uhr

Eine Krise jagt seit Jahren die nächste. Viele können sich immer weniger leisten. Wir haben mit Psychologin Katarina Stengler gesprochen, mit welchen Strategien wir mit dem Verzicht an Normalität besser umgehen können.

Welche Veränderungen haben Sie bei den Menschen in den letzten Jahren in Ihrer täglichen medizinischen Praxis beobachten können?

Prof. Katarina Stengler: Seit März 2020 hat sich die Welt ja in eine andere Richtung gedreht. Da gab es immer mal so Rausgucken aus Lockdown eins, zwei und drei. Dann dachte man, jetzt ist alles vorbei. Seit 24. Februar ist Krieg in der Ukraine. Auch beschäftigen uns Klimwandel und Klimakatastrophen, wie jetzt die Überschwemmungen in Florida. Weltweit ist man im Krisenmodus. Das füllt die Menschen mit Angst, Verunsicherung und Ohnmacht. Damit stellen sich Menschen bei uns vor, die schon psychische Erkrankungen oder Ausnahmezustände haben. Aber auch Menschen kommen, die bisher stabil waren, vieles bewältigt haben. Die sagen dann auch: "Corona war schon schlimm, aber was jetzt kommt ist überhaupt nicht mehr zu überblicken."

Günter Reich, Familientherapeut und Professor an der Uni Göttingen 19 min
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Was macht denn die Angst mit uns?

Prof. Katarina Stengler: Dass wir jetzt in dieser Situation Angst haben ist einerseits sehr verständlich, weil solche globalen Krisen auch Menschen verunsichern, die vorher gar nicht mit Angst und Panik zu tun hatten. Es geht ans Eingemachte. Der Krieg ist in Europa, das war in den letzten Jahrzehnten nicht so. Wir sind an unsere Existenzgrenzen gebracht. Die Menschen sind auf sich selbst zurückgeworfen, sagen, jetzt muss ich mich erstmal um mich kümmern. Die viel zitierte Solidarität, die in Krisen greift, ist auch ein bisschen aufgebraucht.

Es gibt auch Menschen, die sagen: "Ich händel das nicht mehr, ich schlafe schon nicht mehr und ich merke, dass ich nur noch ins Grübeln verfalle. Wenn ich mich mit Menschen treffe, kann ich mich nicht konzentrieren." Alles Dinge, wo Leute psychologische Hilfe brauchen.

Prof. Katarina Stengler, Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Helios Park-Klinikum
Prof. Katarina Stengler Bildrechte: Christian Hüller

Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen und viel Grübeln können also Folgen von so einer Angst sein?

Prof. Katarina Stengler: Das sind Folgen, die sehr früh auftreten – ganz klar auch durch die Überflutung an Informationen. Es wird immer gesagt, Informationen dosieren, sich ein-, maximal zweimal am Tag über das aktuelle Weltgeschehen informieren, nicht mehr. Bei einer Überflutung kommen Sie schnell nicht mehr in den Schlaf und fangen an, sich selber zu behandeln – nicht nur indem Sie Schlafmittel nehmen, sondern auch öfter Wein trinken oder auch Essen und Trinken, was dann unkontrollierter passiert. Da setzen Mechanismen ein, die vermeintlich Ruhe und Ablenkung bringen sollen. Aber am Ende wird ein Teufelskreis in Gang gesetzt.

Lebensstandards müssen zurückgeschraubt werden, auch geht die Angst um, bald die Miete nicht mehr zahlen zu können. Wie kann man besser mit Verzicht klarkommen?

Prof. Katarina Stengler: Menschen sind belastbar und kommen durch schwerste Krisen. Man kommt mit wenig Essen und Trinken durch schwere Zeiten – und auch mit wenig Luxus. Wir wissen aus extremen Kriegszeiten, dass man mit weniger zurecht kommt. Verglichen mit extremer existentieller Gefahr haben wir natürlich in Mitteleuropa oder Deutschland eher gut gelebt. Das Minimum, mit dem wir uns in manchen Bereichen jetzt zufrieden geben müssen, verändert natürlich unser Leben. Auch der Zugriff auf Möglichkeiten war breiter. Ich konnte meine Wohnung ganz warm machen oder kalt lassen – diese Möglichkeit hatte ich. Aber jetzt bleibt sie alternativlos vielleicht kalt. Das kann natürlich zu Panik führen. Das ist was, was so nie dagewesen ist.

Wie kann man besser durch Krisenzeiten kommen?

Prof. Katarina Stengler: Es ist zunächst wichtig, sich mit der aktuellen Situation auseinander zu setzen. Informationen muss man haben, aber nicht zu viele, eher wohl dosiert, wie schon erwähnt, nur ein- bis zweimal am Tag – und besser nicht direkt vor dem Schlafen gehen. Zweitens, in Kontakt bleiben, über Sorgen und Ängste, Gefühle der Ohnmacht sprechen. Aber auch hier wieder nicht zu viel, nicht katastrophisieren – aber im Austausch bleiben. Manche Problemlagen können sich durch geteiltes Leid relativieren oder man erfährt von Bewältigungsstrategien der anderen. Drittens, das normale Leben auf dem Level, wo es möglich ist, wie bisher weiterleben. Statt das Fitnessstudio, was man sich vielleicht nicht mehr leisten kann, trotzdem eine Runde spazieren gehen. Bewegen, Sport machen, Freizeit gestalten, auch wenn draußen der Krieg tobt. Auch Familienangehörige treffen. Abläufe vor allem für Kinder erhalten, Sicherheit geben, damit sie nicht mit ihren Ängsten und Sorgen alleine bleiben.

Hilft es auch so, sich vielleicht mehr zu vergleichen, wie andere Menschen leben, um das einzuordnen?

Prof. Katarina Stengler: Deshalb ist Austausch wichtig. In unseren Sprechstunden fragen wir immer: Mit wem unterhalten Sie sich denn darüber? Hören Sie auch von anderen, wie es denen in der Situation geht? Betroffene unterstützen Betroffene. Das führt manchmal zu der Erkenntnis, anderen geht’s schlechter, eröffnet aber eben auch den Blick für das Positive, was man noch hat. Das führt dazu, zu sagen: Mir geht’s schlecht, an welchen Stellen geht es mir aber noch gut? Die Ressourcen kann ich nutzen.

Man sagt oft, dass wir Deutschen ein besonders ängstliches Volk sind und andere vielleicht auch mit solchen Krisensituationen gelassener umgehen.

Prof. Katarina Stengler: Wir haben einen hohen Sicherheitsstandard im Sozialsystem und Absicherungsmöglichkeiten, das sind wir gewohnt und darauf wollen wir setzen. Wenn es Unsicherheiten gibt, dann muss sich auch im Vorfeld schon darum gekümmert werden. Aber das führt dazu, dass ich da weniger entspannt bin, weil ich Risikoverhalten an manchen Stellen nicht gewohnt bin und nicht gelernt habe. Die wichtigste Botschaft ist: Krisen vergehen, irgendwann wird es besser. Dann müssen wir daraus lernen: Wir sollten lockerer mit bestimmten Dingen umgehen, wir sollten besser auf Alte, Pflegebedürftige, Kinder und Jugendliche aufpassen. Und das nicht nur in guten Zeiten. Das ist auch die Frage: Wie wollen wir hinterher leben? Wie soll unsere Gesellschaft sein?

Sollte man sich also auch von schlechten Nachrichten abschotten? Auch mit Blick auf die Sozialen Medien?

Prof. Katarina Stengler: Die meisten wissen, dass sie dosiert damit umgehen müssen. Aber der Sog ist groß! Es ist eine Art Überlebensreflex. Man will wissen, was auf einen zukommt. Es gibt auch das Gegenteil, Leute, die sich mit gar nichts mehr konfrontieren und sich nicht mehr informieren. Beide Extreme sind schlecht. Auch eine Botschaft an die Medien: Trotz der katastrophalen Meldungen ist es wichtig auch noch zu schauen, wie ist der Jahreswechsel, gibt es einen Wettbewerb? Leichtere, schöne und positive Themen sind auch wichtig. Der Abgleich mit dem normalen, realistischen Leben ist ganz wichtig, damit die Menschen wieder in ihre eigene Realität finden.

Infos zum Experten Prof. Katarina Stengler ist Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Helios Park-Klinikum in Leipzig.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Hauptsache Gesund | 27. Oktober 2022 | 21:00 Uhr

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