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Einschätzung einer StrafrechtlerinSind unsere Strafen zu mild?

08. August 2022, 13:32 Uhr

Da kommen Vergewaltiger auf Bewährung frei und so mancher fragt sich: Wie kann das sein? Sind unsere Strafen zu mild? Und wie viel Subjektivität der Entscheidung liegt beim jeweiligen Richter? Elisa Marie Hoven, Professorin für deutsches und ausländisches Strafrecht der Universität Leipzig, hat die Antworten. Sie erklärt polarisierende Urteile.

Zwei 13- und 14-jährige Jungen aus Salzgitter sollen im Juni dieses Jahres ein 15-jähriges Mädchen ermordet haben. Der 13-Jährige ist noch nicht strafmündig. Kann es sein, dass jemand einen Mord begeht und nichts passiert?

Prof. Dr. Elisa Marie Hoven, Professorin für deutsches und ausländisches Strafrecht: Das ist in der Tat ein schwieriges Problem. Bei dem 14-jährigen Täter greift unser Jugendstrafrecht, das heißt, er hat mit einer Strafe bis zu zehn Jahren zu rechnen. Das sind mildere Strafen als bei Erwachsenen. Eine lebenslange Freiheitsstrafe, wie wir sie sonst bei Mord kennen, die gibt es im Jugendstrafrecht nicht. Bei dem 13-Jährigen gehen wir tatsächlich davon aus: Er ist noch nicht strafmündig, da können wir nicht einmal ermitteln.

In diesem Zusammenhang wurde diskutiert, das Alter der Strafmündigkeit herabzusetzen. Was halten Sie davon?

Prof. Dr. Elisa Marie Hoven ist Richterin am Sächsischen Verfassungsgericht. Bildrechte: Prof. Dr. Elisa Marie Hoven

Darüber kann und sollte man sprechen, allerdings möglichst nicht im Lichte eines so dramatischen Einzelfalls. Da ist man nicht sachlich genug. Aber natürlich muss man die Frage thematisieren, ob nicht auch ein zwölf oder 13-jähriges Kind das Unrecht einer schweren Tat wie Mord oder Vergewaltigung einsehen kann. Hier sollten wir uns noch stärker mit den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie beschäftigen.

Noch wichtiger als die Anwendung des klassischen Strafrechts finde ich, dass in solchen Fällen staatlich interveniert wird. Wichtiger als eine Vergeltung der Tat ist zudem, diesen offensichtlichen Fehlentwicklungen bei dem Kind etwas entgegenzusetzen. Bloße Angebote an die Familien, die dann häufig nicht wahrgenommen werden, reichen in solchen Fällen nicht aus.

In diesem Jahr wurde außerdem ein elfjähriges Mädchen durch einen 16-jährigen Afghanen in Neustrelitz vergewaltigt. Das Urteil hieß: Ein Jahr auf Bewährung. Das scheint sehr wenig zu sein?

Wenn man das hört, dann ist das natürlich nicht nachvollziehbar. Allerdings muss man sagen, dass der Begriff "Vergewaltigung" im juristischen Wortsinn anders verwendet wird, als wir das im alltäglichen Gebrauch tun. Gewalt ist zum Beispiel gar keine Voraussetzung für Vergewaltigung. Das soll eine Tat gegen die sexuelle Selbstbestimmung in keiner Weise bagatellisieren, aber es gibt natürlich Abstufungen in der Schwere und wir wissen schlicht nicht, was dort genau vorgefallen ist.

Das kann ein Missbrauch weit unterhalb der Schwelle der Vergewaltigung gewesen sein. Ich habe es leider auch nicht herausgefunden. Mein Mitarbeiter hat fast zehn Mal beim Gericht angerufen – und keinerlei Informationen erhalten. Es ist sehr bedauerlich, dass sich die Justiz in einem solchen Fall, der in den Medien breit diskutiert wurde und bei den Menschen natürlich ein großes Störgefühl auslöst, nicht mehr erklärt.

Der Richter bzw. die Richterin legt das Strafmaß fest. Aber inwieweit muss er oder sie sich an einen Straf-Rahmen halten? Und wie sehr gibt es da individuellen Spielraum?

Der Gesetzgeber formuliert für jedes Delikt, das wir kennen, einen Strafrahmen. Der Richter oder die Richterin hat dann die Aufgabe, innerhalb dieses Rahmens das richtige Strafmaß zu finden. Diese Strafrahmen können sehr weit sein. Zum Beispiel reicht der Strafrahmen bei sexuellem Missbrauch von Kindern von einem Jahr bis zu 15 Jahren. Der Richter hat dann natürlich einen großen Spielraum, muss aber bestimmte Faktoren sowohl strafmildernd als auch strafschärfend berücksichtigen. Beispielsweise Vorstrafen spielen immer eine erhebliche Rolle oder auch die Frage, ob jemand ein Geständnis abgelegt oder Reue gezeigt hat.

In der Berichterstattung hört man relativ wenig davon. Deshalb wirken Urteile oft als sehr milde. Haben Sie grundsätzlich das Gefühl, dass die Strafen zu mild sind und wird das auch in Justizkreisen diskutiert?

Ich meine, dass das Thema bei uns noch zu wenig diskutiert wird und auch noch zu wenig in Interaktion mit der Bevölkerung. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wenn unsere Strafen als zu milde wahrgenommen werden, dann, das wissen wir aus Studien, verlieren die Menschen das Vertrauen in die Justiz und letztendlich auch generell in staatliche Institutionen. Das heißt, wir müssen unsere Strafzumessung besser erklären.

Ich glaube nicht, dass die Strafen in Deutschland zu milde sind. Über bestimmte Bereiche kann man sicher diskutieren. Aber grundsätzlich haben wir ein Justizsystem, auf das wir sehr stolz sein, mit dem wir eigentlich sehr glücklich sein können. Wir müssen uns nur am einen oder anderen Punkt besser erklären.

Wir wissen auch aus Untersuchungen, dass Menschen, je weniger Informationen sie über einen Fall haben, desto härtere Strafen verhängen würden. Je mehr Informationen sie bekommen, desto milder urteilen sie. Insoweit ist das auch eine Informationsfrage. Ich plädiere seit einiger Zeit für eine Strafzumessungskommission, wie sie es in anderen Ländern, zum Beispiel in Australien, gibt. Da diskutieren Bürger und Richterinnen über Leitlinien für gerechte Strafen.

Vor gut drei Jahren ging ein Fall durch die Medien: Gegen eine prominente Persönlichkeit wurden Ermittlungen wegen der Verbreitung kinder- und jugendpornografischer Inhalte eingeleitet. Schließlich wurde diese Person wegen Weiterleitung von 26 kinderpornografischen Schriften und des Besitzes einer kinderpornografischen Schrift verurteilt.

Das Urteil war dann zehn Monate auf Bewährung. Da war der Strafrahmen maximal fünf Jahre.

Hat sich seitdem am Strafrahmen etwas verändert?

Mittlerweile wurden die Strafen angehoben für den Besitz kinderpornografischer Schriften und auch für die Besitzverschaffung. Eine Strafe von zehn Monaten wäre heute nicht mehr möglich, die Mindeststrafe beträgt jetzt ein Jahr, die Höchststrafe zehn Jahre. Damit ist die Tat ein Verbrechen. Das war sicher auch eine Reaktion auf die Empörung der Öffentlichkeit.

Warum wurde das Urteil genau so gesprochen?

In dem Fall muss man natürlich genau hinschauen, worum es ging. Ich verstehe, dass gerade dieses Delikt zu extremer Empörung führt, auch ganz verständlicherweise. Bei Kinderpornografie geht es um die Abbildung von extremem Leid. Und jeder, der solche Schriften konsumiert und weiterleitet, der macht sich mitverantwortlich. Das ist klar.

Bei Kinderpornografie geht es um die Abbildung von extremem Leid.

Prof. Dr. Elisa Marie Hoven | Strafrechtlerin

Um aus Perspektive der Justiz zu argumentieren: Wir müssen jeden Fall einordnen innerhalb des Strafrahmens. Und 26 oder 27 Bilder, um die es da ging, das ist vergleichsweise sehr wenig. In den typischen Fällen, die wir haben, sprechen wir von Tausenden von Materialien, die gehortet werden über Jahre, die weitergegeben werden, die getauscht werden. Also das sind häufig Delikte mit einem ganz anderen Unrechtsgehalt.

Es ging da um eine sehr berühmte Persönlichkeit. Viele Leute haben dann aufgrund des vermeintlich milden Urteils von einem Promi-Bonus gesprochen. Gibt es so etwas?

Nein, ich glaube wirklich nicht, dass unsere Justiz dafür anfällig ist. Ich meine fast im Gegenteil. Was allerdings vielleicht eine Rolle spielt, ist: Das Gericht hat – neben der Tatsache, dass die Person Reue gezeigt und eine Therapie begonnen hat – auch die mediale Berichterstattung berücksichtigt.

Wenn Sie sich vorstellen, dass ein einfacher Bürger wegen solcher Taten verurteilt wird, dann muss sein Umfeld das überhaupt nicht erfahren. Bei der Person war es auch aufgrund der exzessiven und zum Teil falschen Medienberichte das Ende einer beruflichen Karriere. Die öffentliche Meinung wird die Person immer mit diesem Vorwurf verbinden. Natürlich hat sie das selbst zu verantworten, ich will das nicht relativieren. Aber das sind natürlich Folgen, die man auch mit einbeziehen muss.

Ein anderer Fall: Ein Mann wird des sexuellen Missbrauchs von Kindern in 129 Fällen überführt. Er bekommt eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, ausgesetzt zur Bewährung. Wie kann es zu einem Urteil kommen?

Der Fall ist sicher ein Grenzfall. Aber wir müssen ihn uns trotzdem ganz genau anschauen. In dem Fall gab es verschiedene Besonderheiten. Die Taten lagen 20 bis 25 Jahre zurück. Der Täter war, als er gehandelt hat, selbst Anfang 20, also noch ein recht junger Mensch. Er hat selbst erkannt, dass er ein Problem hat und eine Therapie gemacht. Er hat mittlerweile eine Frau gefunden, lebt in einer festen Beziehung, hat einen Beruf. Er ist seit 20 Jahren in die Gemeinschaft integriert, man weiß von keinerlei Straftaten.

Wenn Kinder Opfer werden, prägt das ihr ganzes Leben. Doch auch an den Täter wird gedacht. Bildrechte: imago images/photothek

Das Gericht steht jetzt natürlich vor einer ganz schwierigen Entscheidung. Ob zwei Jahre schuldangemessen sind, dazu möchte ich mich nicht nicht weiter äußern, ohne die ganzen Details des Falls zu kennen. Aber natürlich hat man da ein gewisses Störgefühl, gerade aufgrund der Vielzahl der Fälle.

Auf der anderen Seite ist natürlich ein Anliegen des Strafrechts immer auch die Sozialprävention. Das heißt, wir wollen Menschen davon abhalten, weitere Straftaten zu begehen. Und nun haben wir jemanden, der die Kurve bekommen hat. Er hat es auch ohne Strafe geschafft, sich offenbar von diesem Trieb zu befreien, er lebt in einer gefestigten Beziehung, er ist nicht mehr straffällig geworden.

Und da müssen wir uns natürlich fragen: Wenn wir ihn jetzt rausreißen und ins Gefängnis stecken, tun wir uns als Gemeinschaft damit einen Gefallen? Wir brechen dann alle sozialen Beziehungen ab. Was macht das mit diesem Menschen? Ist es für uns als Gemeinschaft nicht besser und sicherer, das nicht zu tun? Aber das ist natürlich ein ganz starkes Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach einer gerechten Vergeltung und der Frage danach, was die Strafe mit dem Täter macht. Auch mit Blick auf uns alle.

Also hätte man ihn rein hypothetisch schon vor 20 Jahren, kurz nach dem Beginn dieser schrecklichen Straftaten, geschnappt  – wäre die Strafe dann höher?

In jedem Fall. Die lange Zeitdauer spielt hier eine erhebliche Rolle.

Das Leben missbrauchter Kinder wird nie wieder dasselbe sein. Das sind traumatische Erlebnisse, die kaum einer von uns nachvollziehen kann. Spielt das eigentlich bei der Strafbemessung eine Rolle?

Ja, das spielt eine Rolle. Bei unserer Strafzumessung schauen wir immer auf die Auswirkungen der Tat. Und das ist natürlich auch das psychische Leid der Opfer. Das ist der Grund, warum dieses Delikt des Kindesmissbrauchs eines der schwerwiegendsten ist, das wir kennen. Er richtet sich gegen ganz schutzwürdige, vulnerable Opfer, und es hat zum Teil lebenslange Folgen, mit denen sich diese Kinder auseinandersetzen müssen. Häufig ist das die erste sexuelle Erfahrung, die überhaupt gemacht wurde. Außerhalb von Tötungsdelikten gibt es aus meiner Sicht kaum eine Tat mit vergleichbar schweren Folgen.

Unsere Expertin

Bildrechte: Prof. Dr. Elisa Marie Hoven

Prof. Dr. Elisa Marie HovenElisa Marie Hoven ist Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind deutsches und internationales Strafrecht, Wirtschaftsstrafrecht, Medienstrafrecht und Sexualstrafrecht. Seit 2020 ist sie zudem Richterin am Sächsischen Verfassungsgericht.

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR um 4 | 04. August 2022 | 17:00 Uhr