Der Thesenanschlag vom 31.10.1517 – Mythos oder Realität? Schwang Luther den Hammer oder der Hausmeister einen Pinsel?

Der Anschlag der 95 Thesen gegen den Ablass an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg gilt als Initialzündung der Reformation und ist bis heute ein identitätsstiftendes Ereignis für den deutschen Protestantismus. Seit vielen Jahren ist in der Forschung umstritten, ob und wie der Thesenanschlag erfolgte. Jedenfalls ist er eine der vielen Lutherlegenden.

Der Spitzbogen am Westportal der evangelische Lutherkirche in Rudolstadt zeigt auf einem Flachrelief Luther beim Thesenanschlag.
Spitzbogen am Westportal der evangelischen Lutherkirche in Rudolstadt/Thüringen mit einem Flachrelief von Luther beim Thesenanschlag Bildrechte: dpa

Auf historischen Bildern zum Thesenanschlag sieht man meist einen entschlossenen Augustinermönch, der in Gegenwart einer erwartungsvoll gestimmten Menschenmenge trotzig den Hammer schwingt. So hat der Thesenanschlag allerdings nicht stattgefunden, schon gar nicht vor städtischer Bevölkerung (also Handwerkern, Frauen und Kindern). Die Thesen waren für Akademiker in Latein verfasst – zum Zwecke einer Disputation im universitären und innerkirchlichen Rahmen. Bei den "volkstümlichen" Darstellungen handelt es sich um mediale Überhöhungen – meist des 19. Jahrhunderts.

Luther hat übrigens nie von einem Anschlag der Thesen gesprochen, selbst nicht in den geschwätzigen Tischreden, in denen der alternde Reformator gerne über sein Leben fabulierte. Sicher ist, dass er sie mit einem ausführlichen Begleitbrief an Albrecht von Brandenburg, Kardinal und Erzkanzler des Reiches, schickte. In diesen Brief hat Luther auch zum ersten Mal die Unterschrift "Luther" benutzt (bis dahin nannte er sich, wie seine Vorfahren, "Luder") – ein klares Zeichen für verändertes und gewachsenes Selbstbewusstsein.

Zeugen für ein Ereignis, die es vielleicht nie gab

Von einer Art Thesenanschlag berichtete Philipp Melanchthon fast drei Jahrzehnte nach dem mutmaßlichen Ereignis, kurz nach Luthers Tod 1546. Luther habe die Thesen an der Allerheiligenkirche angeheftet. Doch Melanchthon war 1517 noch gar nicht in Wittenberg, also nicht einmal potentieller Augenzeuge. Später fand man noch eine Notiz von Georg Rörer, einem langjährigen Wegbegleiter des Reformators. Rörer war 1517 ebenfalls nicht in Wittenberg und seine Notiz stammt aus dem Jahre 1540. Späte und fragwürdige Zeugen also.

Es ist trotzdem durchaus möglich, dass die 95 Thesen an der Tür der Schlosskirche angebracht wurden. Solche Anschläge waren an der Tagesordnung, schließlich war die Tür der Schlosskirche ein täglicher Anlaufpunkt für viele Wittenberger; auch waren Kirche und Universität eng verzahnt. Solche Blätter anzubringen war aber nicht Aufgabe der Professoren, sondern eher der Pedelle – wie Hausmeister damals genannt wurden.

Einen Urdruck gab es ... vielleicht ... oder auch nicht

Vielleicht gab es sogar einen Wittenberger Urdruck der Thesen. Dass die Wittenberger Universität über eine Druckerei verfügte, ist durchaus plausibel. Doch dann wäre er verschollen, woraus der Lutherbiograph Martin Brecht folgert, es habe nie einen gegeben. Wiedergefunden wurde 1983 allerdings ein vergleichbarer Druck aus dem September 1517, in dem Luther grundsätzliche Thesen gegen die gängige Scholastische Lehrpraxis formulierte. Diese Thesen fanden keine Resonanz, obwohl sie für die Entwicklung des Theologen Luther wegweisend waren. Vor allem Aristoteles, den Ahnherrn der Scholastiker, hatte er im Visier. Und den "aristotelischen Irrweg der überkommenen Scholastik" (Martin Brecht, Autor des Buches "Martin Luther") mit Thomas von Aquin, als ihren prominentesten Repräsentanten. Diesem stellte er den Kirchenvater Augustinus als Vorbild gegenüber und dessen Betonung der Gnade Gottes und der Unfreiheit des Menschen in religiösen Dingen. Dieses Dokument ist ein früher Beleg für die gewachsene intellektuelle und religiöse Selbstständigkeit und Freiheit des Augustinermönches von tradierten Lehrmeinungen. Für den Lutherforscher Volker Leppin ist dies "die eigentliche Nachricht des Herbstes 1517 – nicht aber ein immer wieder erzählter Thesenanschlag".

Ob der Thesenanschlag stattfand oder nicht – er wurde wieder und immer wieder erzählt, gemalt, überliefert, ideologisch genutzt und hat sich so ins protestantische und deutsche kollektive Bewusstsein eingebrannt. Was wirklich war, und was Geschichte wird und wirkt, sind eben verschiedene Dinge.

Leimpinsel statt Hammer

Der Thesenanschlag treibt bis heute seine Blüten. Im Frühjahr 2016 äußerte sich der Historiker Daniel Jütte dazu. Der Harvard-Professor hat sich intensiv mit der historischen Funktion von Kirchentüren befasst und kam zu folgendem Schluss: Bei der Vielzahl von Anschlägen wären die Tür der Schlosskirche durch dauerndes "Annageln" bald völlig durchlöchert und beschädigt worden. Deshalb seien solche Blätter angeklebt worden. Eine sympathische Vorstellung. Der heroische Hammer wäre durch den Pinsel zu ersetzen und das ganze Pathos der letzten 500 Jahre wäre im Leim erstickt.

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