Mythen um Martin Luther Martin Luther, der Vorkämpfer der Demokratie

2017 gibt es einen Feiertag mehr – in ganz Deutschland. Der Reformationstag in diesem Jahr soll einmalig bundesweit arbeitsfrei sein. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ist er das ohnehin, aber nach 500 Jahren soll jetzt die ganze Republik etwas vom Thesenanschlag haben. Protestanten, Katholiken, Juden, Muslime, Atheisten – sie alle sollen an Luther als den Begründer der Demokratie erinnert werden. Aber stimmt das so?

Ein Gemälde zeigt den Reformator Martin Luther an einem Tisch sitzend und ein Buch lesend.
Gemälde des Reformators Martin Luther Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Gemeinhin gilt Wolfgang Schäuble als nüchterner Politiker. Aber – seit Luther wissen wir es – "Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über". Und Bundesfinanzminister Schäuble ist auch evangelischer Christ; so begründet er den arbeitsfreien Reformationstag mit Martin Luther:

Luthers Lehre von den beiden Reichen, aufbauend auf den bekannten Ausspruch Jesu 'Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist', hat dazu beigetragen, dass wir heute in Deutschland in einer freiheitlichen, pluralistischen Demokratie leben können.

Wolfgang Schäuble, Politiker

Ist also Luther der Ahnherr der freiheitlich-demokratischen Grundordnung? Benjamin Hasselhorn von der Stiftung Luthergedenkstätten widerspricht:

Zumindest nicht einfach eins zu eins in unserem heutigen Sinne. Vor allem ist bei Luther wichtig: Politisch ist das nicht gewesen. Also seine Vorstellungen von Teilhabe und Partizipation, die waren alle auf den Bereich der Religion und Organisation von Kirche beschränkt.

Benjamin Hasselhorn, Stiftung Luthergedenkstätten

Die neu entstehenden evangelischen Gemeinden sollten sich nach Luthers anfänglicher Vorstellung selbst organisieren, selbst ihre Pfarrer und Bischöfe wählen. Aber wie das bei Mitbestimmung so ist: Die Gläubigen haben plötzlich andere Ideen. Werfen z. B. alle Bilder aus den Kirchen. Oder deuten wie Thomas Müntzer die Freiheit eines Christenmenschen auch politisch. Und so verabschiedet sich Luther bald wieder von seiner Idee der Mitbestimmung. "Und hat ja dann die Fürsten als Notbischöfe einsetzen wollen; also tatsächlich letztlich eine Reformation von oben durchgeführt", erklärt Benjamin Hasselhorn weiter.

Der von den Bauernunruhen entsetzte Martin Luther schreibt:

Wenn Unrecht erduldet werden soll, dann ist's besser von der Obrigkeit Unrecht zu leiden, als daß es die Obrigkeit von den Untertanen leide. Denn der Pöbel hat und weiß kein Maß und in einem jedem stecken mehr als fünf Tyrannen.

Martin Luther, Reformator

Und doch liegt Wolfgang Schäuble nicht völlig falsch, wenn er sich als Demokrat auf Luther beruft. Dessen Idee von den zwei Reichen liefere durchaus einen Impuls für die heutige Demokratie, sagt der Jenaer Kirchenhistoriker Christopher Spehr:

Dass wirklich unterschieden wird zwischen dem Reich Gottes, wie das Evangelium verkündigt, in dem sich eben der Bereich der Kirche abspielt. Auf der anderen Seite eben das politische Handeln, in dem es Gesetze und Normen geben muss. Und beides von Gott gesteuert und gelenkt. Aber in dem Bereich der Welt herrschen eben andere Gesetze als im Reich Christi. Diese Differenzierung ist tatsächlich ein Impuls, der über das Luthertum bis heute gewirkt hat.

Christopher Spehr, Kirchenhistoriker

Im Widerstandsrecht beispielsweise: Der Christ müsse der Obrigkeit und ihren Geboten gehorsam sein, meint Luther. Mit einer Einschränkung:

Wenn aber der Obrigkeit Gebot ohne Sünde nicht befolgt werden kann, soll man Gott mehr gehorchen als den Menschen.

Martin Luther, Reformator

Die Frauen und Männer der bekennenden Kirche beriefen sich auf Luther, ebenso wie Christen heute, wenn sie Flüchtlingen Kirchenasyl gewähren. Luther wäre damit womöglich nicht einverstanden. Deutlich demokratischer, so Christopher Spehr, geht es bei den Schweizer Reformatoren zu:

... wo von Anfang an Formen von Synode und Mitgestaltung im Kirchenwesen vorhanden waren, die sich dann im 19. Jahrhundert auch ganz stark im lutherischen Bereich niederließen und Einfluss nahmen.

Christopher Spehr, Kirchenhistoriker

Die Kirchgemeinden werden zu Erfahrungs- und Probierräumen der Demokratie. Auch deswegen ist die friedliche Revolution von 1989 zu großen Teilen eine protestantische Revolution.

Über dieses Thema berichtet MDR KULTUR auch im: Radio | 07.05.2017 | 09:15 Uhr