Reformationsorte in Mitteldeutschland: WittenbergAusgangspunkt der Reformation
Wittenberg ist der Ausgangspunkt der Reformation. Hier verbrachte Martin Luther 35 Jahre – mehr als die Hälfte seines Lebens. Hier veröffentlichte er 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel. Und ein ganzes Netzwerk half ihm dabei.
Korrekterweise heißt Wittenberg übrigens "Lutherstadt Wittenberg". Die Stadt erhielt den Namenszusatz aber nicht etwa schon in der wilhelminischen Epoche – ganz im Geiste der preußischen Luther-Überhöhung. Das geschah 1938 unter den kirchenfeindlichen Nazis, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges.
Nicht minder kurios ist, dass Eisleben das gleiche Namensprivileg 1946 unter der noch kirchenfeindlicheren sowjetischen Besatzung zum 400. Todestag des Reformators erhielt. Man könnte das Ganze abtun als Geschichte, die uns nicht mehr sonderlich zu berühren braucht. Wäre da nicht Mansfeld, wo Luther als Kind heranwuchs. Die hohe Ehre eines vergleichbaren Namenszusatzes erhielt Mansfeld nicht. Doch immerhin 1996 – als Wittenberg und Eisleben auf die prestigeträchtige Liste des Weltkulturerbes der UNESCO gesetzt wurden – erhielt es zum Trost einen Hintan-Beinamen: Mansfeld-Lutherstadt.
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Straßen "erzählen" Geschichten
Wittenberg war zu Luthers Zeit mit rund 3.000 Einwohnern überschaubar, und der Ort ist es heute mit seinen gut 50.000 Einwohnern immer noch. Wie an keinem anderen Luther-Ort kann man hier die damalige Zeit nachempfinden. Schon die Silhouette von Westen oder Süden gesehen, lässt heute noch das Dasein im 16. Jahrhundert erahnen. Ob Gassen, Straßen, Wege, Plätze – stets darf sich der Besucher sicher sein, dass hier der große Reformator höchstpersönlich langgeschritten ist.
Streift man durch das alte Wittenberg, "erzählen" viele Straßen und Orte Geschichten: Die "Schlossstraße" mit dem Schloss und der Schlosskirche, wo der Thesenanschlag angeblich stattgefunden hat; der "Marktplatz", wo die Statuen von Luther und Melanchthon stehen; daneben die Stadtkirche, in der Luther gepredigt hat und in der einer der bedeutendsten Cranach-Altäre steht.
Dann die "Collegienstraße", benannt nach dem 1502 als "Collegium Frederizianum" gebauten ersten Zweckgebäude für die neue Universität Leucorea; an der "Collegienstraße" stehen das Melanchthonhaus, der Cranach-Hof, wo Cranach der Ältere seine Werkstätten betrieb und am Straßenende findet sich das Lutherhaus, in dem der Reformator mit seiner Familie wohnte und das er zu einer Art Begegnungsstätte gemacht hatte. Heute beherbergt es das größte reformationsgeschichtliche Museum der Welt.
Und hinter dem Ende der "Collegienstraße", wo einst das Elstertor war, steht eine Luthereiche in einer kleinen Grünanlage. An dieser Stelle hatte Luther die Bulle des Papstes mit der Bannandrohung verbrannt.
Zu Luthers Zeiten eine Großbaustelle
Wer allerdings meint, ein solcher Rundgang vermittle auch nur annähernd das Stadtbild, das Luther vor sich hatte, irrt gewaltig. Als Luther nach Wittenberg kam, sah die Stadt ganz anders aus. Luther erreichte Wittenberg erstmals im Jahre 1508, als er eine Vertretungsprofessur an der erst sechs Jahre zuvor gegründeten Universität ausfüllen sollte. Damals war der Zugang in die Stadt nur durch drei große Tore in der gewaltigen Stadtmauer möglich. Die beiden wichtigen waren das Schlosstor im Westen, auch "Coswiger Tor" genannt, und im Osten das "Elstertor".
Ausgerechnet das "Elstertor", durch das damals Luther in die Stadt kam, steht schon lange nicht mehr. Es wurde im Zuge preußischer Umbaumaßnahmen im 19. Jahrhunderts seit 1873 stückweise abgetragen. Links sah Luther einen Neubau. Es war das neue Klostergebäude für eine große Anzahl von Augustinermönchen. Dass er selbst einmal dort mit einer Familie und großen studentischem Anhang wohnen würde, konnte er noch gar nicht ahnen.
Das "Augusteum" längs der "Collegienstraße" stand zu Luthers Lebzeiten noch gar nicht. Das Gelände war unbebaut.
Kirche St. Marien von altem Friedhof umgeben
Weiter ging Luther an Bürgerhäusern vorbei – die Stadt zählte Anfang des 16. Jahrhunderts 356 steuerpflichtige Hauseigentümer – bis zum mittelalterlichen Marktplatz. Dort sollten im 19. Jahrhundert Denkmale von ihm und seinem Weggefährten Melanchthon aufgestellt werden. Auch daran kann Luther damals überhaupt nicht gedacht haben. Vor sich sah er das Rathaus, das ebenfalls ganz anders aussah. Und rechts davon blickte der Reformator auf die Kirche St. Marien. Die Häuser darum gab es nicht, stattdessen erstreckte sich dort ein Friedhof.
Als Luther weiter in Richtung "Coswiger Tor" ging, bemerkte er größte Geschäftigkeit bei der unvollendeten Großbaustelle "Schloss". Begonnen hatte der Bau des neuen Schlosses 1489, als er in Mansfeld zur Schule ging. Wittenberg war seither "Boom-Town". Der gewaltige Turmbau am Schloss von 88 Metern Höhe und mit der kronenähnlichen Kuppel – heute Wahrzeichen der Silhouette Wittenbergs – ist allerdings erst durch Aufstockung gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden. Luther hat diesen Turm und die Silhouette nie gesehen.
Thesen-Tür verbrennt im Siebenjährigen Krieg
Die Schlosskirche neben dem Schloss war ein Neubau. 1503 wurde sie geweiht und erst ein Jahr zuvor als Universitätskirche bestimmt. Mit der heutigen Schlosskirche hat sie wenig zu tun. Die nämlich wurde 1885 bis 1892 auf die alten Grundmauern gesetzt – als protestantischer Gedächtnisbau quasi neu geschaffen. Integriert wurde die zweiflügelige Tür von 1858, die den Ersatz für die eigentliche Thesen-Holztür darstellte, die im Siebenjährigen Krieg 1760 vollständig verbrannt war.
Damit begegnete Luther anschaulich den Aktivitäten seines neuen Landesherrn. In seinem Kindheitsort Mansfeld waren seine Herren die Grafen von Mansfeld, sein Studienort Erfurt war eine freie Stadt. Jetzt begann das Schicksal, ihn mit dem sächsischen Kurfürsten Friedrich III., genannt "der Weise", zu verbinden und umgekehrt.
Was hatte Luther bis dahin gesehen? Mansfeld, die Großstadt Magdeburg und das wilde Erfurt. Gleichwohl: Leipzig oder Halle, Meißen, Freiberg – das waren andere "Nummern" als Wittenberg mit einer Universität im Aufbau. Der Askanier-Herzog Albrecht II. hatte Wittenberg 1293 zwar zur Stadt erhoben, und 1356 machte der Kurfürst von Sachsen-Wittenberg, der Askanier Rudolf II., die Stadt zur Residenz. Aber das war es dann auch.
So gesehen ist es eher begreiflich, warum sich Luther später etwas abfällig über Wittenberg äußerte. Er habe seinerzeit gedacht, "die Wittenberger sind an der Grenze der Zivilisation; wären sie noch ein wenig weiter vorgerückt, so wären sie mitten in die Barbarei geraten".
Wittenberg profitiert von der "Leipziger Teilung"
Doch warum gab es überhaupt die beiden Großbaustellen Schloss und Universität? Schuld daran sind die sächsische Herrschaftspraxis und die "Leipziger Teilung von 1485".
Nach der Teilung des Kurfürstentums Sachsen fehlte Friedrich III. eine Universität. Er entschloss sich, Wittenberg als Residenzstadt aufzuwerten und zum Universitätsstandort auszubauen. Ein erster großer Schritt waren der Bau von Schloss und Schlosskirche. Dazu kamen "weiche Standortfaktoren". Friedrich holte sich den famosen Lucas Cranach d. Ä. als Hofmaler aus Kronach in Franken. So entstand eine neue "Infrastruktur". Dozenten und Studenten zogen in die Stadt, neben Bauleuten und Handwerkern jeder Art. Die Nachfrage an Baumaterial, Fachkräften, Druckwerken, Papier, Farben etc. stieg; Wittenberg blühte auf und wurde "Boom-Town".
Über dieses Thema berichtete auch:MDR Sachsen-Anhalt Heute | Fernsehen | 14.09.2016 | 19:23 Uhr
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