Jugendliche trinken Bier in der Öffentlichkeit.
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Nachgefragt: Helga Meeßen-Hühne, Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt (2018) "Entspannen bei Bier und Schnaps"

21. März 2019, 11:19 Uhr

Es gilt als bundesweites "Gesundheitsziel", den Alkoholkonsum zu reduzieren. Das scheint im Osten nach wie vor keine einfache Aufgabe zu sein. Beim Blick auf die Zahlen für alkoholbedingte Klinik-Aufenthalte oder Sterbefälle liegen Sachsen-Anhalt, aber auch Sachsen weit vorn. Wie kommt das? Wir fragten Helga Meeßen-Hühne, Landesstelle für Suchtfragen im Land Sachsen-Anhalt.

Lebt die recht robuste Trinkkultur aus Ost-Zeiten noch fort - oder ist das nur ein Klischee? Warum sticht Sachsen-Anhalt in der Statistik so hervor?

In Sachsen-Anhalt ist das Alkoholproblem vorwiegend männlich. Bei den Männern liegen wir weit höher als der Bundesdurchschnitt bei den alkoholbezogenen Gesundheitsschäden. Die Frauen liegen im Mittel. Die Gründe sind nicht genau bekannt. Eine Ursache ist sicher der hohe Altersdurchschnitt der Bevölkerung in Sachsen-Anhalt. Die älteren Menschen haben, was Alkohol und Tabak angeht, ein gefestigtes Konsumverhalten. Es wird hierzulande traditionell viel getrunken und auch geraucht. Das prägt natürlich auch die jüngeren Leute.

Wenn es in meiner Umgebung normal ist, dass sich alle nach Feierabend mit Bier und Schnaps entspannen, dann ist es schwer, andere Gewohnheiten zu entwickeln. Das gilt für das Rauchen ganz genauso.  Umso wichtiger sind  Präventionsbemühungen bei Kindern und Jugendlichen.

Vor einigen Jahren grassierte das Koma-Saufen unter Jugendlichen. Davon hört man kaum noch etwas. Hat sich das Problem erledigt oder wird es nur verdeckt  - z. B. durch das Aufkommen von Crystal Meth in den letzten fünf Jahren?

Sicher schien das Phänomen neu, dass sich so viele Jugendliche ins Krankenhaus getrunken haben. Wenn man genauer hinsieht, war es aber so, dass die Anzahl von Menschen mit Trinkunfällen in allen Altersstufen enorm gestiegen war. Dies wurde in der Regel nicht thematisiert. Erwachsene trinken lieber weiter und fragen sich, was denn mit der Jugend los sei.

In der Tat scheinen aber bundesweit nicht nur die Krankenhaus-Behandlungstage in Folge von Rauschtrinken - binge-drinking bedeutet fünf oder mehr Gläser Alkohol zu einer Trinkgelegenheit - bei jungen Menschen wieder zurück zu gehen, sondern auch die Anzahl der jungen Menschen, die einmal im letzten Monat viel getrunken haben, wie die jüngsten Zahlen der Bundeszentrale für  gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zeigen.  

Ganz unbestritten sind aber die alkoholbezogenen Schäden, gesundheitlich und sozial gesehen, nach wie vor um ein vielfaches höher als die Schäden durch den Konsum illegaler Drogen. Doch für die Medien sind sicher die Crystal-Geschichten wesentlich spektakulärer als das alltägliche Elend mit dem Alkohol. Gleichwohl: Mit den Folgen des Konsums von Methamphetamin, der etwa in den letzten fünf Jahren vorrangig in den Anrainerstaaten von Tschechien rasant  angestiegen ist, mussten und müssen sich natürlich Suchthilfe, Suchtprävention und  Politik befassen.

Wer trinkt mehr, die Alten oder die Jungen?

Sicher ist: Wer früh gelernt hat, dass das Alkoholtrinken dazu gehört, wird sicher mehr trinken als jemand, in dessen Umgebung Alkoholgenuss nur besonderen Gelegenheiten vorbehalten war. Statistisch gesehen gibt es Schwerpunkte bei Jugendlichen zwischen 15 und 20 Jahren, was sicher mit einem Experimentierverhalten zu tun hat, und in der Gruppe der  45-55jährigen Männer. Danach geht die Häufigkeit des Rauschtrinkens wieder zurück. Allerdings sinkt mit zunehmendem Alter bei allen Menschen deutlich spürbar die Alkoholverträglichkeit.

Alkohol  und Tabak sind legale Drogen. Jeder weiß heute, dass das Rauchen schädlich ist. Inzwischen wird auf Zigaretten-Packungen trotzdem noch mit Schockbildern vor den Folgen gewarnt. Wäre ein ähnliches Vorgehen bei Alkohol aus Ihrer Sicht wünschenswert?

Das ist eine alte, aber trotzdem gute Idee. Gerade beim Alkohol gibt es ein großes Missverständnis. Wenn Menschen darauf angesprochen werden, dass ihr Alkoholkonsum möglicherweise zu hoch ist, kommt oft die empörte Zurückweisung: Ich bin doch nicht suchtkrank. Es kann sein, dass das stimmt. Aber Alkohol ist ein Zellgift und auch für jemanden gesundheitsschädlich, der nicht suchtkrank ist. Jeden Abend ein Glas Wein ist für eine Frau zu viel, jeden Abend eine Flasche Bier ist für einen Mann zu viel. Pro Woche sind zwei, drei trinkfreie Tage angesagt.

Mit dem Alkoholkonsum steigen die Risiken für mehr als 200 verschiedene Krankheiten, insbesondere Herzkreislauf- und Krebserkrankungen. Nach einer aktuellen Studie aus Neuseeland begünstigt Alkohol Krebs nicht nur, sondern ist die Ursache für sieben Tumorarten. Die niedrigen Trinkmengenempfehlungen werden oft nicht ernst genommen, weil sie mit der falschen Botschaft verknüpft werden. Es geht an dieser Stelle nicht um Alkoholismus, auch nicht um moralisch besseres oder schlechteres Verhalten, sondern um Gesundheitsinformation. Die Konsumentscheidung sollte jeder und jede Erwachsene gut informiert selbst treffen können.

Wo klemmt es bei der Prävention aus Ihrer Sicht am meisten - mit Blick auf die Werbung und die recht günstigen Preise?

Werbung spielt eine sehr große Rolle. Es geht ja nicht nur um Plakate, sondern um die kommerzielle Kommunikation der Alkoholindustrie: in den Medien - in Fernsehen, Radio und Internet bis hin zur SMS-Werbung oder zum Product Placement, durch die Etikettierung und Verpackung von alkoholischen Getränken, durch die Platzierung in den Supermärkten. Es gibt nicht selten Mengenrabatt und die Promotion im direkten Kontakt oder das Sponsoring von Sport- und Kulturveranstaltungen.

Jugendliche sind für Werbung besonders empfänglich, deshalb sind sie als Zielgruppe so interessant. Markenbindung hält häufig ein Leben lang. Der Deutsche Werberat hat sich im Rahmen einer Selbstverpflichtung Regeln auferlegt, die den Schutz von Kindern und Jugendlichen vorsehen. Allerdings sind die Werbemethoden wesentlich moderner und zielen v.a. auf Lebensstilkonzepte, so dass Kinder und Jugendliche eben doch angesprochen werden, obwohl die Regeln, die dies verhindern sollen, auf den ersten Blick sehr ausgefuchst aussehen. Dazu kommt, dass diese Regeln sich einzig  auf den  Inhalt der Werbung,  nicht aber auf  die Menge, Sendezeit oder Platzierung  in  Sendeformaten oder Sendern beziehen. Hilfreich wäre tatsächlich eine verpflichtende Regulierung der Alkoholwerbung. Modellrechnungen für das Gesundheitswesen sagen positive Effekte eines Verbots voraus.

Die Verhältnisse für Menschen, die Alkohol trinken möchten, sind in Deutschland ideal. Bier, Wein und Schnaps sind  immer und überall zu haben.  Und im Vergleich zu anderen EU-Ländern sind wir ein Billig-Alkoholland. Dass die Preise sogar für harte Alkoholika im Taschengeldbereich liegen und sie eigentlich jeder Tages- und Nachtzeit verfügbar sind. das hat enormen Einfluss auf den Alkoholkonsum. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muss man kein Experte sein, aber es gibt auch Studien, die dies gut belegen.

Was sehen Sie für Ansätze, daran zu arbeiten? In Dresden beispielsweise soll auf kommunalen Flächen nicht mehr für Alkohol und Tabak geworben werden dürfen ...

In Baden-Württemberg hat es beispielsweise eine Untersuchung zu den Auswirkungen des dortigen nächtlichen Alkoholverkaufsverbotes gegeben: Die Auswertung nach fünf Jahren hat gezeigt, dass das positive Effekte hat - vor allem in der Altersgruppe der 15 bis 25-jährigen - also genau in der Zielgruppe, die man erreichen will. Alkoholexzesse haben abgenommen, weil irgendwann der Nachschub fehlt. Daher sprach sich u.a. der Deutsche Städte- und Gemeindebund für ein nächtliches Alkoholverkaufsverbot aus. Die Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler unterstützte diese Forderung und plant aktuell wieder ein Gespräch mit den kommunalen Spitzenverbänden.

Die Kommunen benötigen rechtliche Möglichkeiten, bei Bedarf zeitlich und räumlich begrenzte Alkoholverbote auszusprechen: Hier geht es nicht um Suchtprävention,  sondern um die Verhinderung von alkoholbedingter Randale, Körperverletzung und Notfalleinweisungen ins Krankenhaus. Der Arbeitskreis Legale Suchtmittel in Sachsen-Anhalt wandte sich mit der Bitte an den Landtag, sich für ein nächtliches Alkoholverkaufsverbot einzusetzen und auch dafür, dass Kommunen mehr rechtliche Möglichkeiten bekommen.

Eine wichtige Maßnahme wäre auch die Erhöhung von Alkoholsteuern. Deutschland erhebt ja beispielsweise auf Wein immer noch gar keine Steuern.

Alkohol gehört hierzulande wie selbstverständlich dazu und ist nebenbei auch ein gutes Geschäft. Ein ganzer Industriezweig lebt davon und der Staat profitiert von den Steuern. Experten sagen, das hat seinen Preis: Wie hoch ist er in Sachsen-Anhalt in Bezug auf die Zahl der Abhängigen und die Kosten für Behandlungen direkt und indirekt?

Das lässt sich natürlich nur sehr schwer beziffern. Im Jahr 2008 hat das Landesamt  für Verbraucherschutz anhand der Daten der Gesundheitsberichterstattung die Kosten für Sachsen-Anhalt veranschlagt: "Die volkswirtschaftlichen Kosten der alkoholbezogenen Gesundheitsschäden werden in Sachsen-Anhalt auf 600 Millionen Euro für die 'bundesdurchschnittlichen' Alkoholschäden und auf zusätzliche 300 Millionen Euro für die 'landesspezifisch erhöhten' Alkoholschäden geschätzt", heißt es darin.

Es gibt Zahlen, die besagen, dass nur zehn Prozent der Alkoholabhängigen professionelle Hilfe suchen? Woran liegt das?

Generell erreichen wir Menschen mit Suchtproblemen erst etwa nach zehn Jahren.  Das hat etwas mit der Stigmatisierung von Suchtkranken zu tun, mit der eher scheinheiligen Einteilung in ganz normale Menschen, die "etwas vertragen", und die "bedauernswerten Suchtkranken".  

Der Effekt von durchschnittlich hohem Alkoholkonsum in der deutschen Bevölkerung ist doch der, dass sich der Vieltrinker im Bereich des Normalen sieht und so nichts an seinem Verhalten ändern muss. Deshalb ist die hohe Alkoholtrinkrate, die wir übrigens in allen neuen Ländern haben, eine Herausforderung. Wir müssen neue Normalitäten schaffen - vorzugsweise bei Kindern und Jugendlichen - und Gesundheitsinformation zu Alkohol betreiben.

Gibt es für die Präventionsarbeit als auch für die Betreuung alkoholabhängiger Menschen sowie deren Angehörige in der ambulanten Suchthilfe genügend bzw. genügend geschultes Personal?

Nach meiner Einschätzung könnten mit mehr Personal in den regionalen Suchtberatungsstellen wesentlich mehr Menschen erreicht werden. Dort gibt es seit Jahren Wartezeiten. Beobachtungen zeigen, dass dort, wo Fachstellen für Suchtprävention existieren, vermehrt auch jüngere Menschen erreicht werden. Allerdings haben wir in sechs von 14  Landkreisen und kreisfreien Städten immer noch keine Fachstellen für Suchtprävention, und bei den bestehenden ist die Personaldecke zum Teil doch sehr dünn.

Inzwischen gibt es für die Suchtprävention sehr gut wirksame Konzepte, die sich an die Verantwortlichen in Schule, Jugendhilfe und Berufsausbildung genauso wenden wie an Kinder und Jugendliche selbst. Es geht darin um Einstellungen und Verhaltensweisen oder um den Gebrauch von Suchtmitteln, Glücksspiel oder Mediennutzung sind da auch im Fokus. Einige dieser Konzepte wurden in Sachsen-Anhalt entwickelt und finden bundesweite Anerkennung. Wir setzen darauf, Multiplikatoren mit Fachkenntnissen auszustatten, um breit wirksam zu sein.