Neues Buch Christliche Seelsorge für NS-Verbrecher
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Die christlichen Kirchen gedenken heutzutage der Opfer des Nationalsozialismus, vor allem der Opfer des Holocaust. Doch das war nicht immer so. In den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg engagierten sich vor allem Protestanten mehr für die Täter als für die Opfer, wie ein aktuelles Buch von Historikerinnen und Historikern belegt. Sie zeigen auf, dass sich evangelische Gefängnisseelsorger geradezu rührig um verurteilte Kriegsverbrecher kümmerten.

Sie waren Täter während der NS-Diktatur– beispielsweise als Leiter von Konzentrationslagern oder Mediziner, die mörderische Menschenversuche durchführten und wurden von Gerichten der Alliierten dafür verurteilt. Sie waren schuldig, fühlten sich aber alles andere als das.
Die Theologieprofessorin Katharina von Kellenbach hat jahrelang zum Thema Schuld und Reue deutscher Kriegsverbrecher geforscht. Es sei sehr schwierig gewesen, einen Täter zu finden, der seine Taten bereut hätte. Und: Je größer die Schuld war, umso weniger waren die Täter bereit, Reue zu zeigen: "Ich glaube, um überhaupt Gewalt ausüben zu können, um einen anderen Menschen zu verletzten, zu töten, muss die Empathie unterbrochen werden, muss – um das biblisch auszudrücken – das Herz verhärtet werden. Und diese Verhärtung des Herzens unterbindet Schuldgefühle“, erklärt die Theologin.
Diese Verhärtung des Herzens bestand auch fort, als die Täter verurteilt und inhaftiert wurden. Vielmehr inszenierten sie sich selbst als Opfer, die unter den schlechten Bedingungen im Gefängnis zu leiden hätten. Seelsorgerlich betreut wurden diese Kriegsverbrecher in Haft von deutschen Pfarrern. Der Historiker Nicholas John Williams spricht von toxischen Formen der Seelsorge:
Das Ganze ist durch zu viel Nähe gekennzeichnet und eine unkritische Distanz.
Täter und Seelsorger aus dem gleichen sozialen Umfeld
Zudem waren die Inhaftierten meist Männer, die auch aus dem kirchlich geprägten Bürgertum kamen und bei deutsch-nationalen Pfarrern auf Verständnis stießen.
"Für die meisten Gefängnispfarrer waren Kommunisten, Juden, Roma und Sinti weiterhin nicht wirklich wichtig genug, um mit bürgerlichen, deutschen, christlich-sozialisierten Gemeindemitgliedern zu brechen", so Katharina von Kellenbach.
Immer wieder setzten sich diese Kirchenvertreter für die Freilassung und Rehabilitierung von Kriegsverbrechern ein. Dass diese Schuldigen Reue und Buße zeigten, war für die Gefängnispfarrer eher zweitrangig.
Reue ist nicht der Anfang, sondern das Ende eines Prozesses. Am Anfang geht es um Wahrheit. Es geht darum, zu verstehen, wie so etwas passieren konnte.
Späte Aufarbeitung
Doch diese Form der Aufarbeitung begann erst dreißig Jahre nach Kriegsende. Bis dahin sei in der Seelsorge für Kriegsverbrecher viel zu schnell von der Gnade Gottes die Rede gewesen, kritisiert die Berliner Theologin. Sie findet, dass das Problem in der christlichen Liturgie liegt, die Opfern keinen Platz einräumt, vielmehr Tätern die Sünden vergibt. Im Judentum sei das beispielsweise anders:
Da muss der Täter das Opfer um Vergebung bitten, bevor Gott Vergebung oder Versöhnung ausspricht. Das finde ich einen ganz wichtigen Ansatz.
Schuldumkehr
Bis heute wird das Verhalten der Seelsorger gegenüber den verurteilten Kriegsverbrechern kontrovers diskutiert. Die einen sprechen von der Stimmungslage der damaligen deutschen Gesellschaft, dem sich die Kirche als Volkskirche nicht habe entziehen können. Andere sehen ein Versagen der Kirche: die christliche Botschaft sei dem Zeitgeist geopfert worden. So habe man Täter des Holocaust zu Opfern stilisiert.
Buchtipp:
Christoph Picker (Hg.), Nicholas John Williams :
Die Kirche und die Täter nach 1945
Schuld - Seelsorge - Rechtfertigung
Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 2022
ISBN 9783525554609
Gebunden, 192 Seiten
85,00 EUR
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | Religion und Gesellschaft | 22. Januar 2023 | 10:05 Uhr