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Welt-Alzheimertag am 21. SeptemberDemenz: Wie sich die junge Magdeburger Filmemacherin Roxana Hennig für mehr Akzeptanz einsetzt

21. September 2022, 04:00 Uhr

Von Demenz sind rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland betroffen. Angenommen wird, das rund zwei Drittel zu Hause von Angehörigen gepflegt werden. Die junge Magdeburger Filmemacherin Roxana Hennig hat zwei Töchter für ihren Film "Der lange Abschied" begleitet. Wie es dazu kam und warum Aufklärung trotz der großen medialen Präsenz des Themas wichtig ist, hat sie uns im Interview verraten. Und auch, warum sie das Netzwerk "Medien und Pflege" gründete und 360-Grad-Filme für Senioren produziert. Für das VR-Projekt wurde sie gerade von der Bundesregierung als "Kultur- und Kreativpilotin" ausgezeichnet.

Als junge Filmemacherin und Mutter einer kleinen Tochter sind Sie nicht unbedingt in der Lebensphase, um sich mit Demenz zu beschäftigen. Andererseits ist das Thema in letzter Zeit sehr präsent, in den Medien, im Kino oder auf der Bühne? Was war ihr Zugang?

Roxana Hennig, Filmemacherin: Zunächst schon ein ganz privater: Meine Oma war immer sehr unternehmungslustig, bis sie körperlich nicht mehr konnte. Die Welt wurde für sie ziemlich klein, das war für uns alle sehr frustrierend. Ich kannte Virtual Reality aus dem Gaming-Bereich und dachte mir, man könnte VR sicher auch im Pflegebereich einsetzen. Daraufhin habe ich mit Partnerinnen und Partnern das Netzwerk "Medien und Pflege" gegründet, 2020 kamen die ersten RemmyVR-Brillen für unsere 360-Grad-Filme in Pflege-Einrichtungen zum Einsatz. Damit können ältere oder demente Menschen virtuell Orte bereisen, die sie in der Realität aufgrund von Einschränkungen nicht mehr erreichen, ob nun ferne Ziele wie New York oder den Harz, auch Museumsbesuche oder Meditationen sind damit möglich. Meine Oma hat das leider nicht mehr erlebt.

Sonja und ihre Mutter Vreni in jungen Jahren ... Bildrechte: Maywood Media GmbH

Aber so habe ich bei Besuchen in Pflegeeinrichtungen das erste Mal Menschen mit Demenz kennengelernt. Ich erinnere mich an einen Mann, der fragte alle zwei Minuten, wann er wieder nach Hause könne. Es wurde ihm erklärt, dann hat er direkt wieder gefragt und immer so weiter. Er war so verloren und gleichzeitig körperlich in einem guten Zustand – man hätte nicht vermutet, wie schlecht es um ihn steht. Das ist erschreckend. Demenz ist eine Krankheit mit vielen Facetten. Sie trifft auch Menschen, die mitten im Leben standen. Nun verschwindet ihr Wesen nach und nach, sie verstummen. Das ist für die Angehörigen ein sehr schmerzhafter Prozess. Davon wollte ich gerne erzählen, denn die Akzeptanz im konkreten Fall ist noch nicht so groß, wie man angesichts der Präsenz des Themas annehmen könnte. Davon berichten auch die Protagonistinnen in unserem Film.

Preisgekröntes Magdeburger VR-Projekt für Seniorinnen und Senioren: RemmyVR

Für das Virtual-Reality-Projekt RemmyVR ist die Magdeburger Medienproduktionsfirma Maywood Media von Roxana Hennig im Februar von der Bundesregierung ausgezeichnet worden. Mit ihrem Team gehörte sie zu den sogenannten Kultur- und Kreativpiloten 2021. Gemeinsam mit Partnerinnen und Partnern entwickelte das Unternehmen ein Komplettpaket aus VRHeadset, "Wohnzimmer-App" sowie ein Angebot mit 360-Grad-Filmen für die Bewohnerinnen und Bewohnern von Pflegeeinrichtungen.

Die Idee: Mittels VR-Brille erleben ältere oder demente Menschen virtuell Orte, die sie in der Realität aufgrund von Einschränkungen nicht mehr erreichen, ferne Ziele wie New York oder den Harz, aber auch Museumsbesuche oder Meditationen sollen so möglich sein. "Virtual Reality eignet sich für Menschen mit physischen Problemen ebenso wie für Demenzkranke", erklärt dazu Firmengründerin Roxana Hennig.

Im Vergleich zu Fernsehen oder Fotos tauchten Nutzerinnen und Nutzer mittels VR-Brille sehr tief in Räume oder ein Geschehen ein. Gespräche und Interaktion ersetze das Angebot auf keinen Fall, aber es könne "wunderbar aktivieren und die Biografiearbeit unterstützen", so Hennig.

Mehr zum Film: "Demenz: Der lange Abschied"

Sie lenken den Blick auf die Pflege durch Angehörige zuhause. Konkret erzählen Sie zwei Mutter-Tochter-Geschichten. Weshalb dieser Fokus?

Häufig haben Frauen aufgrund ihrer Prägung ein besonderes Verantwortungsgefühl für die Familie. Sie begreifen es als ihre Pflicht, die häusliche Pflege selbstständig zu bewältigen. Nun ist die Beziehung zwischen Mutter und Tochter eine sehr besondere – die erste, die wir im Leben haben und oftmals ein starkes, beständiges Band. Die Mutter ist meist die wichtigste Ratgeberin und Unterstützerin, sie gibt ein Leben lang Halt.

... inzwischen erkennt sie die Tochter nicht mehr. Bildrechte: MDR / D. Laudowicz

Wenn sich diese Rollen aufgrund der Krankheit umkehren, ist das ein Prozess, der erst einmal verarbeitet werden muss. Bei den Töchtern entsteht dann oft der Wunsch, die Mutter bis zum Ende zu begleiten, obwohl sie sich schon lange von ihrem Wesen verabschieden mussten. Selbst wenn Pflegekräfte unterstützen, ist der Mental Load, also die psychische Belastung im Alltag extrem hoch. Es ist ein Prozess des permanenten Abschieds. Es kostet auch die beiden Töchter in meinem Film, Peggy Elfmann und Sonja Traxel, sehr viel Energie, diesen Weg zu gehen, aber sie folgen dabei ihrem Herzen.

Es ist ein sehr komplexes Geflecht aus der Liebe zur Mutter, dem Loslassen und der gesellschaftlichen Verpflichtung, das wollte ich zeigen.

Das Thema Demenz ist scheinbar in der Öffentlichkeit präsent. Die Folgen der Krankheit fürs tägliche Leben von Betroffenen und deren Angehörige seien für viele auch im direkten Umfeld aber schwer greifbar. Was bedeutet das beispielsweise für die Töchter Peggy und Sonja?

Sonja und ihre Mutter Vreni bei den Dreharbeiten Bildrechte: MDR / D. Laudowicz

Massiven Druck. Andere Menschen können einfach nicht glauben, dass Betroffene nicht mal ihre Enkel erkennen. So denken pflegende Angehörige, deren Handlungen und ihren Umgang damit ständig rechtfertigen zu müssen. Man kann aber nicht mit Argumenten überzeugen, wenn jemand im Unterhemd mit verschiedenen Schuhen losläuft. Sonja meint, das sei wie mit Kindern – nur dass bei ihnen das Verständnis langsam wächst, während bei Demenzkranken irgendwann keins mehr da ist. Die Frage, die sich Sonja oder Peggy stellen, ist dann: Wieviel will und kann ich korrigieren und belehren und eingreifen? Denn das ist jedes Mal wieder eine unangenehme Situation, denn Zwang führt zu Aggressionen und Wut.

Menschen mit Demenz folgen also sicher auch keinem Drehplan, wie konnten Sie den Film realisieren?

Es war für die beiden Mütter, Kerstin Elfmann und Vreni Herlan, erstmal sehr verwirrend, dass wir bei ihnen im Wohn- oder Schlafzimmer standen. Deswegen haben wir uns mit den Vorgesprächen und Interviews viel Zeit gelassen, ich wusste, dass es einen Moment dauern kann, bis wir zum Kern der Sache vorstoßen. Wir durften die Protagonistinnen sehr nah begleiten und haben diese Chance bestmöglich genutzt. Wir haben uns auf die Situation eingelassen, auch mal mitgetanzt und gesungen, viele Ruhepausen eingeschoben. Ich denke, unser Kameramann Daniel Laudowicz hat großes Einfühlungsvermögen bewiesen, so dass trotz der Kamera im Raum eine vertrauensvolle Atmosphäre entstand.

Kameramann Daniel Laudowicz erklärt Vreni, was als nächstes passieren soll. Bildrechte: Maywood Media GmbH

Tatsächlich gab es auch einige lustige Momente, Vreni hat trotz ihrer starken Demenz oft einen coolen Spruch auf den Lippen, wenn man gar nicht damit rechnet. Sie erinnert sich auch noch gut an alte Schlager. Manchmal merkte sie, dass etwas "mit ihrem Kopf nicht stimmt" und ist in Tränen ausgebrochen – das hat uns natürlich nicht kalt gelassen. Bei Kerstin war das anders, denn sie spricht nicht mehr. Hier war es wichtig, feinfühlig zu sein und Vertrauen zu schaffen, ihre Tochter Peggy erreicht das mit viel Körperkontakt und gibt ihr durch Nähe ein gutes Gefühl.

Wie gehen Sie mit den Erfahrungen um, professionell als Filmemacherin, aber auch als Tochter?

Dass wir so wenig über den wirklichen Zustand der Betroffenen wissen, hat mich sehr beschäftigt. Kerstin saß während des Interviews mit ihrer Tochter direkt bei uns. Sie schien emotional sehr betroffen, als ihre Tochter erzählte, wie schade es sei, dass ihre Mutter die Taufen oder Geburtstage der Enkelkinder nicht mehr so erleben könne. Natürlich bewahrt man als Regisseurin immer einen gewissen Abstand, aber da ich selbst eine enge Beziehung zu meiner Mutter habe, fiel es mir diesmal gar nicht so leicht.

Mir ist auch klar geworden, dass viel zu selten im Vorfeld geklärt wird, was sich jede, jeder in einer solchen Situation wünschen würde. Es ist kein angenehmes Thema, aber man sollte es besprechen, solange es noch geht. Keine Mutter will irgendwann zu einer Last für das eigene Kind werden, während die Kinder oft ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihre Eltern in ein Pflegeheim geben. Hier ist Kommunikation zur richtigen Zeit gefragt.

Was haben Sie bei der Arbeit am Film beobachtet: Was ist das größte Problem für pflegende Angehörige – und wo gibt es eigentlich "Erste Hilfe"?

Natürlich gibt es offizielle Stellen, die Beratung anbieten, z.B. betreibt die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. ein Alzheimer-Telefon und zeigt Hilfsangebote auf. Aber die Krankheit hat so viele Gesichter, dass es für Angehörige schwierig ist, in allgemeinen Ratgebern Hilfe für ihre jeweilige Situation zu finden. Wichtig ist daher die Vernetzung mit anderen Betroffenen. Wenn man einen Fall von Demenz in seiner Familie erlebt, hat man sicher oft das Gefühl, damit sehr alleingelassen zu sein – das geht vielen so. Das Thema ist noch immer mit Angst und Scham besetzt. Dazu kommt der undurchsichtige Pflegedschungel und die damit verbundene Administration. Das alles kostet Zeit und Kraft und muss von der ganzen Familie mitgetragen werden.

Bei der Arbeit am Film habe ich mitbekommen, wie der Austausch mit Gleichgesinnten Kraft und Zuversicht gibt. Da läuft viel über das Netz – auf Facebook und Instagram gibt es zahlreiche Gruppen. Auch unsere Protagonistinnen sind da aktiv: Peggy Elfmann schreibt zum Beispiel auf ihrem Blog "Alzheimer und Wir" über die Krankheit ihrer Mutter und berichtet im Podcast "Leben, Lieben, Pflegen" über Demenz und Familie, während Sonja Traxel mit FRIDA Betroffenen in Online-Kursen Hilfe anbietet.

Die Pflege eines Menschen mit Demenz stellt eine Aufgabe dar, die einfach alle Lebensbereiche der pflegenden Angehörigen beeinflusst. Pausen zum Abschalten muss man sich aber bewusst nehmen, um nicht zu resignieren.

Was bleibt für Sie, nach der intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Demenz und der Arbeit an dem Film? Wie hat sich Ihr Blick aufs Leben, auf Familie oder das Älterwerden verändert?

Ich bin immer noch beeindruckt davon, was die beiden Töchter leisten. Das Beispiel von Peggy und Sonja hat mir vor Augen geführt, wie stark man sein kann, wenn man plötzlich muss. Ich nehme auch mit, dass man sich noch mehr auf die Gegenwart konzentrieren sollte und dabei alles genießen muss, was der Moment bietet.

Ich werde filmisch weiter an dem Thema Alter arbeiten. Mich beschäftigt die Frage, wieso alle alt werden wollen, aber keiner es so richtig sein möchte. Ältere Menschen haben so viel zu berichten. Wir hören ihnen meiner Meinung nach zu wenig zu.

Das Gespräch führte Katrin Schlenstedt, MDR Religion und Gesellschaft.

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | 28. April 2022 | 22:40 Uhr

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