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Johannes Clair: Als Fallschirmjäger nach Afghanistan, Heimkehr als Traumatisierter Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

MDR-DokuBundeswehr-Veteranen: Wie der "Krieg im Kopf" weiter geht

27. Februar 2024, 16:15 Uhr

Über 400.000 Männer und Frauen waren seit den 1990er-Jahren für die Bundeswehr in Auslandseinsätzen. Schätzungsweise 20 Prozent von ihnen kämpfen – teilweise erst Jahre später – mit psychischen Folgen. Veteranen wie Johannes Clair und Mario Nickel aus Sachsen-Anhalt sprechen über den "Krieg im Kopf" – und sie kritisieren so wie Bernhard Drescher vom Bund Deutscher EinsatzVeteranen e.V. und der Militärhistoriker Sönke Neitzel das Ausblenden des Themas aus der gesellschaftlichen Debatte.

Helfen und kämpfen, in diesem Spannungsfeld bewegen sich Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr im Auslandseinsatz. Rund 400.000 meist junge, Männer und Frauen waren es seit den 1990er-Jahren. Allein 90.000 dienten in Afghanistan, bis zum Abzug im Herbst 2021, der auch viele Veteranen schockierte.

Vier Tage, die alles ändern

Einer von ihnen ist Johannes Clair. Als Fallschirmjäger kam er mit 24 Jahren auf eigenen Wunsch nach Afghanistan. Er nahm im November 2010 an der Operation Halmazag teil, danach änderte sich sein Leben für immer.

"Direkt nach dem Einsatz fühlte ich mich komplett ausgebrannt. Ich wollte die Kaserne nicht mehr von innen sehen. Ich wollte einfach nur noch meine Ruhe haben und auch den Beruf nicht mehr." Er schreibt über seine Erlebnisse das Buch "Vier Tage im November". Er will studieren und einen Neuanfang versuchen. Das gelingt ihm nicht. Er kann sich nicht konzentrieren, schafft es nicht, U-Bahn zu fahren, erträgt keine Menschenmassen und erst recht kein Silvesterknallen, ihn überkommen Essattacken, er stürzt sich in extensives Computerspielen. Das Reden über das Erlebte in Talkshows oder Vorträge erweist sich nicht als Therapie. Im Rückblick spricht er von einem "emotionalen und lebenspraktischen Chaos". Schließlich begreift er: "Ich klammere mich an das Thema und erwarte gleichzeitig, dass es mich loslässt, das ist utopisch."

Doppelt belastet nach Auslandseinsatz

Studien gehen davon aus, dass etwa 20 Prozent aller ehemalige Einsatzsoldaten Erfahrungen mit posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) gemacht haben. Oft treten die Probleme erst Jahre nach den Einsätzen auf, was besonders für Zeitsoldaten zur doppelten Belastung werden kann. Die Bundeswehr ist für sie unter Umständen nicht mehr zuständig, Kostenträger wollen in aufwendigen, bürokratischen Verfahren Belege für den Zusammenhang zwischen Kriegseinsatz und Krankheit, während die Gesellschaft das Thema immer noch weitgehend ausblendet.

So empfindet es auch Mario Nickel. Er war als stellvertretender Spähtruppenführer in Bosnien. Ab 1992 unterstützte die Bundeswehr zunächst UN-Blauhelme vor Ort, um Zivilisten in Bosnien-Herzegowina und Kroatien vor serbischen Verbänden zu schützen, dann waren deutsche Soldaten Teil der Nato-Friedens- bzw. Schutztruppe (Ifor, Sfor), bis 2012 zuletzt noch als Berater der bosnischen Streitkräfte.

"Anerkennung von Kamerad zu Kamerad" Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Nickel versucht bis heute, schreibend das Erlebte zu verarbeiten; die Angst vor Minen, die schwere Verletzung eines engen Freundes, die Toten. Dass er für seinen Einsatz beim ersten Veteranen-Treffen im Landkreis Harz, organisiert vom Bund Deutscher EinsatzVeteranen e.V., unlängst persönlich geehrt wurde, mit Urkunde und Abzeichen, das bedeutet ihm viel, "weil es eine Anerkennung ist von Kamerad zu Kamerad." Therapien seien eine "feine Sache", um zu lernen, "mit Situationen umzugehen". Aber das Erlebte werde einem keiner ganz nehmen können. Gut zu wissen, "dass man mit solchen Situationen nicht alleine ist."

Stichwort: Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) kann jeden treffen. Sie entsteht als Reaktion auf außergewöhnlich belastende Ereignisse.

PTBS wurde erstmals 1980 im US-amerikanischen Leitfaden psychischer Störungen beschrieben. Als Symptome gelten Flashbacks und entsprechendes Vermeidungsverhalten, Angst, Reizbarkeit und das sogenannte Numbing, die Verflachung aller Interessen und Gefühle. Der Zustand der Betroffenen reicht von schwer depressiv bis total übererregt.

Im Zeitraum von 2011 bis 2017 wurden in deutschen Bundeswehrkrankenhäusern insgesamt 1.309 Patientinnen und Patienten wegen Neuerkrankungen mit PTBS behandelt.

Bei einem vom Bund Deutscher EinsatzVeteranen e.V. organisierten Treffen Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Zugleich wünscht sich Nickel, mehr Interesse über den eigenen Kreis hinaus: "Wenn ich jetzt rausgehen und Leute fragen würde, wieviel Soldaten wir in den Einsätzen verloren haben, das wüsste nicht einer. Das ist traurig, da müsste mehr Arbeit passieren und die Gesellschaft sich selbst hinterfragen."

Bund Deutscher EinsatzVeteranen: Hohe Dunkelziffer Traumatisierter

Rund 90 ehrenamtliche Fallmanager, die meist selbst Einsatzerfahrungen haben, kümmern sich in der Einzelfallhilfe um rund 500 akut betroffene Kameraden in ganz Deutschland. Michael Gebel vom BDV schätzt die Zahl der Traumatisierten weit höher, auf bis zu 40.000, "die sich gefangen halten in dieser Belastungsstörung und sich zum Teil nicht öffnen, wo die Familien das tragen".

Historiker Neitzel: Respekt zollen, Sprache finden

Militärhistoriker Sönke Neitzel Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Die großen Zusammenhänge zwischen Krieg, Gewalt, Kultur und Gesellschaft werden in vielen Ländern umfangreich erforscht. In Deutschland gibt es dafür einen Lehrstuhl. An der Universität in Potsdam lehrt Professor Sönke Neitzel Militärgeschichte und die Kultur der Gewalt. Er kritisiert, derzeit würde der "Kampf" aus dem Traditionsbild der Bundeswehr herausdekliniert. Hier sei mehr Ehrlichkeit gefragt von militärischer Führung und Politik:

"Wenn wir uns als einen souveränen Staat empfinden, der eine Armee hat, der diese Armee auch einsetzen will, der das auch begründet in diesem Rahmen ... dann sollten wir den Soldaten und Soldatinnen Respekt zollen, die bereit sind, dafür ihr Leben einzusetzen. Das mache ich nicht, das machen Sie nicht, das machen ganz viele andere nicht, aber die machen es." Keine Sprache zu finden, das hat aus seiner Sicht gefährliche Folgen. Denn die emotionale Leerstelle zwischen den Staatsbürgern in Uniform und dem Staat könnten dann andere besetzen.

Bernhard Drescher, Vorsitzender Bundesverband Deutscher EinsatzVeteranen e.V. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Seit 1992 beteiligt sich die Bundeswehr an Auslandseinsätzen. Mehr als 100 deutsche Soldaten im Einsatz und in anerkannten Missionen ums Leben gekommen. 37 von ihnen fielen in Gefechten oder wurden bei Anschlägen getötet.

"Gefallen, das heißt, als Teilnehmer der Parlamentsarmee im Einsatz getötet worden zu sein, also nicht einfach nur so, sondern um etwas zu bewirken", stellt Bernhard Drescher klar.

Bundeswehr-Veteranen auf dem Weg zum "Wald der Erinnerung", der einzigen offiziellen Gedenkstätte für im Auslandseinsatz Gefallene. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Der ehemalige Berufssoldat schied nach 34 Jahren auf eigenen Wunsch aus dem Dienst aus. Auch er kennt den "Krieg im Kopf", seit 2018 ist er Vorsitzender des Bundes Deutscher EinsatzVeteranen. Einmal im Jahr treffen sie sich in der Nähe von Potsdam im "Wald der Erinnerung", der einzigen offiziellen Gedenkstätte für im Auslandseinsatz Gefallene.

Eine späte Würdigung für die Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan dienten, war der Große Zapfenstreich im Oktober 2021. Derzeit ist die Bundeswehr mit ca. 3.000 Soldatinnen und Soldaten in elf Einsätzen auf drei Kontinenten. 2022 wurde das Mandat für den Irak von der Regierung verlängert.

Auslandseinsätze stehen zur Debatte

Inzwischen hat die Ampel-Regierung am 14. Januar 2022 erstmals einen Beschluss zu einem Auslandseinsatz der Bundeswehr gefasst. Verlängert wurde das Mandat für den Irak zunächst bis Oktober. Der Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" soll dabei zweitrangig werden. In den Mittelpunkt soll die Ausbildung und Beratung der Streitkräfte rücken. Die Personal-Obergrenze liegt weiterhin bei 500 Soldatinnen und Soldaten

Das westafrikanische Mali gilt nach dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan als größtes deutsches Militärengagement. Die Bundeswehr ist dort mit gut 1.350 Soldaten als Teil der EU-Ausbildungsmission EUTM sowie der UN-Friedensmission Minusma im Einsatz - Ende Mai steht eine Verlängerung ihres Mandats an. Der französischen Ex-Kolonie mit ihren 20 Millionen Einwohnern machen seit Jahren islamistische Terrorgruppen zu schaffen.

 

Wiederholung aus dem Jahr 2022

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | 23. Februar 2023 | 23:10 Uhr