Historiker-Kritik 300 Jahre Glockenguss in Apolda: "Festwoche blendet NS-Zeit aus"
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In Apolda wurden seit 1722 rund 20.000 Bronze-Glocken gegossen. Die bekannteste ist der "Decke Pitter" für den Kölner Dom – die klangtiefste, freischwingende Glocke der Welt aus dem Jahr 1923. Auch das Glockenspiel im Französischen Dom zu Berlin stammt aus Apolda. Auf fünf Kontinente wurden Glocken geliefert. Das große Jubiläum wird ab 4. Juli 2022 mit einer Festwoche gefeiert. Beim Blick zurück in die Geschichte fehlt allerdings das Kapitel der NS-Zeit, wie der Leiter des Lutherhauses in Eisenach, Jochen Birkenmeier, vorab kritisiert.

Mit einer Festwoche feiert Apolda ab Montag die 300-jährige Tradition des Glockengusses in der Stadt. Dabei wird das Kapitel der NS-Zeit keine Rolle spielen, wie der Leiter des Eisenacher Lutherhauses, Jochen Birkenmeier, jetzt kritisiert.
"Nazi-Glocken" aus Apolda: Mangelnde Aufarbeitung
Apolda würdige zwar die lange Tradition, blende aber die Jahre von 1933 bis 1845 aus, schreibt der Historiker in der Kirchenzeitung "Glaube+Heimat". Dabei würden fast alle bekannten Glocken mit eingegossener NS-Symbolik aus Apolda stammen.
Selbst kirchenfeindliche Glocken seien hier geschaffen worden, etwa für die Glockenspiele in den trutzigen Türmen der "NS-Ordensburgen" im pommerschen Krössinsee und im bayerischen Sonthofen, kritisierte Birkenmeier. Diese Glocken sollten nicht zum Gottesdienst, sondern zur Errichtung eines "arischen" Weltreichs rufen, in dem die christlichen Kirchen "abfaulen" sollten "wie ein brandiges Glied", erklärte Birkenmeier unter Verweis auf Zitate Adolf Hitlers. Der Historiker monierte, dass es bei der Festwoche keine Veranstaltung zu den problematischen Kapiteln der Vergangenheit gäbe.
Man wird eine Verantwortung nicht los, indem man sie leugnet.
Dass Apolda zugleich stolz darauf sei, dass Glocken aus der Stadt etwa im namibischen Windhoek läuten, der Hauptstadt der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwest, lasse erahnen, dass die Organisatoren der Festwoche von einer ernst gemeinten historischen Aufarbeitung noch weit entfernt seien. Apolda müsse den Mut aufbringen, auch über die dunklen Seiten der Geschichte zu sprechen.
Gewichtige Tradition: "Decker Pitter" für den Kölner Dom
In Apolda wurden von 1722 bis 1988 rund 20.000 Bronze-Glocken gegossen. Die bekannteste ist der "Dicke Pitter" für den Kölner Dom – die größte, an einem geraden Joch freischwingende Glocke der Welt. Auf die 300 Jahre alte Tradition, die mit der DDR endete, verweist eine "Touristische Unterrichtungstafel" an der Autobahn A4.
Festwoche: Konzerte, Ausstellung, 6. Weltglockengeläut
Gefeiert wird das Jubiläum mit einer Festwoche vom 4. bis 9. Juli – mit Konzerten eines Glockenspielers auf einem fahrbaren Carillon, mit einer Ausstellung zu dem Handwerk im Industriedenkmal Alte Glockengießerei, der ehemaligen Gießerei Franz Schilling Söhne, und dem 6. Weltglockengeläut zum Finale. Eines der Highlights der Festwoche soll zudem ein öffentliches Schaugießen auf dem Melanchthonplatz vor der Lutherkirche sein. Glocken aus Apolda wurden in viele Länder geliefert. Beim Weltglockengeläut werden einige via Livestream beim Konzert vereint. Erwartet wird außerdem die Ankunft einer Friedensglocke, die 2025 ihren Platz in Jerusalem finden soll.
Was tun mit den "Nazi-Glocken"?
Vor rund drei Jahren war heiß über Thüringer Kirchenglocken mit Nazi-Symbolik gestritten worden. In den Fokus gerieten sie durch die Strafanzeige des Saarländers Gilbert Kallenborn gegen die Evangelische Kirche Mitteldeutschlands (EKM). Kallenborn war zuvor schon gegen die sogenannte "Hitlerglocke" im pfälzischen Herxheim juristisch vorgegangen war, mit dem Verweis auf das Verbot zum "Vorrätighalten und Nutzen" von verfassungsfeindlichen Nazidevotionalien. Die Rede war zuletzt von sechs derartigen Glocken in Thüringen. Wo sie genau hängen, veröffentlichte die EKM nicht. Geläutet würden sie nicht mehr, versicherte ein Sprecher im März 2022. Alle Glocken seien entweder stillgelegt oder abgenommen. Manche würden auch geflext, um Inschriften und Symbole zu entfernen. Dagegen wandten sich die Landesdenkmalpfleger, gefordert wurde ein offener Umgang. Eine weitere der Thüringer "Nazi-Glocken", nämlich aus der Kirche Sankt Laurentius in Maua bei Jena steht inzwischen still im Lutherhaus Eisenach als Teil der Ausstellung zum sogenannten "Entjudungsinstitut".
Festwoche: 300 Jahre Glockenguss Apolda: 4. bis 9. Juli 2022 (Auswahl)
Montag, 4. Juli, 19 Uhr, Melanchthonplatz vor der Lutherkirche
Öffentlicher Schau-Glockenguss
Guss einer Glocke (etwa 320 kg) für die Evang.-Luth. Kirchgemeinde Kapellendorf durch die Glockengießerei Perner
Donnerstag, 7. Juli 2022, Lutherkirche
ca. 15 Uhr - Ankunft Friedensglocken-Pferdetreck - Stadtrundfahrt zum Melanchthonplatz
19 Uhr - Multimedialer Vortrag über das Projekt "Jerusalem 2025"
Freitag, 8. Juli 2022, 20 Uhr, Lutherkirche
POND Space Night Solokonzert mit einer Glocke aus der Gießerei Schilling
Samstag, 9. Juli 2022, 19 Uhr, Lutherkirche
6. Apoldaer Weltglockengeläut
Kostenfrei
*Liveschaltung nach Halle: Glockenspiel im Roten Turm mit Carillonneur Maik Gruchenberg
Auf der Bühne in Apolda: Paul Fuchs, aka POND
*Frankfurt am Main, Frauenfriedenskirche: Das im Krieg zerstörte Apoldaer Geläut (1929) existiert nur noch als
historische Tonaufnahme. Der Kontrabassist Gregor Praml hat daraus eine Soundcollage gemacht.
*Jerusalem, Himmelfahrtkirche mit der Herrenmeisterglocke (1910)
Organist Peter-Michael Seifried an der Sauer-Orgel im Dialog mit den Apolda-Glocken in Jerusalem
*Curitiba, Brasilien, Comunidade Luterana do Redentor
Frauenchor Collegium Cantorum mit einem eigenen Chorstück zu den Schilling-Glocken (1894)
*Mehren, romanische Dorfkirche im Westerwald
Sphärisches Konzert mit einer Glocke aus dem 14. Jahrhundert
*Orgelspiel von Kreiskantor Mike Nych auf der jüngst restaurierten Sauer-Orgel in der Lutherkirche
Ausstellung
"Falsche Glocke, Kern und Mantel - 300 Jahre Glockenguss in Apolda"
Alte Glockengießerei
Bernhardstraße 45
Apolda
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | 01. Juli 2022 | 17:15 Uhr