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Die US-Amerikanerin Leiderman wohnt seit 2019 in Görlitz. Dort begann sie, die jüdische Geschichte der Stadt freizulegen, schließlich vernetzte sie Überlebende der Shoah und Nachkommen jüdischer Görlitzer und Görlitzerinnen in aller Welt und brachte sie vor Ort zusammen. Bildrechte: MDR

DokuGörlitz Family: Wie eine junge Amerikanerin jüdische Geschichte ins Heute holt

08. November 2024, 11:00 Uhr

Die junge US-Amerikanerin Lauren Leiderman lebt seit 2019 mit ihrer Familie in Görlitz. In den fünf Jahren hat sie es geschafft, eine ganze Stadt in Bewegung zu bringen, um vergessene jüdische Geschichte ins Heute zu holen. Wie ihr das gelang und was das alles mit Anne Frank zu tun hat, zeigt die MDR-Doku "Lauren Leiderman and the Görlitz Family". Für ihr Engagement wurde sie gerade mit dem European Leadership Network (ELNET) ausgezeichnet. Am 9. November 2024 geht Lauren Leidermann mit Interessierten in Görlitz bei einem geführten Rundgang auf Spurensuche.

von MDR Religion und Gesellschaft

"Ich habe mich gefragt, wo all diese Menschen geblieben sind?", sagt Lauren Leiderman, wenn sie erzählt, warum sie begonnen hat, nach den Spuren jüdischen Lebens in Görlitz zu suchen.

All die Namen: Jüdisches Leben in Görlitz

Vor fünf Jahren zog die US-Amerikanerin in die Stadt an der Neiße. Gemeinsam mit ihrem Mann Mark, der dort eine Stelle als Mediziner antrat. Er ist jüdischen Glaubens, so wollte die junge Frau, die selbst aus einer christlichen Familie in Louisiana stammt, den gemeinsamen Kindern auch die jüdische Tradition, Kultur und Glauben, vermitteln. Und sie begann, sich mit der jüdischen Geschichte ihrer neuen Heimatstadt zu beschäftigen und sich ehrenamtlich in der Stolperstein-Initiative zu engagieren.

Rund 80 Stolpersteine wurden inzwischen in Görlitz verlegt, um an jüdische Familien zu erinnern, so wie hier vor dem Kaufhaus Totschek. Bildrechte: OPEN house media

Ich habe mich gefragt, wo all diese Menschen geblieben sind?

Lauren Leiderman

Einladung zur Spurensuche: Rundgang am 9. November 2024

Online ging sie den Namen jüdischer Familien aus Görlitz nach, um mehr über ihr Schicksal in der NS-Zeit zu erfahren. So lernte sie Judi Hannes-Mendelsohn kennen, die heute in Florida lebt. "Judi bat mich, auf dem jüdischen Friedhof eine Kerze anzuzünden am Grab der Hannes-Familie, die sehr aktiv war in der Gemeinde." Im Gespräch mit ihr entstand die Idee, weiter zu suchen nach Menschen jüdischen Glaubens, die ihre Wurzeln in Görlitz haben."

Lauren Leidermann erinnert beim Verlegen der ersten drei Stolpersteine in Zgorzelec an die Familie Goldberg, deren Schicksal in der NS-Zeit sie recherchierte. Bildrechte: OPEN house media

Auch am 9. November 2024, führt Lauren Leiderman Einheimische und Touristen auf den Spuren jüdischen Lebens durch die Stadt, über die Neiße-Brücke hinweg in den polnischen Teil nach Zgorzelec in die Kociuszki-Straße, wo drei Stolpersteine an die Familie Goldberg erinnern. Bei den Nachforschungen zu ihrem Schicksal machte Lauren Leiderman einen überraschenden Fund.

"Görlitz Connection" von Anne Frank entdeckt

Max Goldberg arbeitete als Lieferant für das jüdische Kaufhaus Totschek. In der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 wurde er verhaftet und acht Wochen festgehalten, er kam krank aus dem Gefängnis zurück. Seine Frau Helene handelte und organisierte die Flucht. Gemeinsam mit der 1929 geborenen Tochter Eva verließ die Familie Anfang 1939 Görlitz, floh vor den Nazis nach Amsterdam und von dort über England in die USA.

Das Poesiealbum von Eva Goldberg wurde zum Dreh- und Angelpunkt für weitere Recherchen. 2021 veröffentlichte Lauren Leiderman das außergewöhnliche Zeitdokument auf Deutsch, Polnisch und Englisch im Leipziger Hentrich&Hentrich-Verlag. Dafür recherchierte sie die Schicksale der Menschen, die sich damals darin eingetragen hatten. Bildrechte: United States Holocaust Memorial Museum

Mit Vielen teile Deine Freuden ... In Erinnerung an Deine Freundin Anne Frank

Anne Frank | aus dem Poesie-Album von Eva Goldberg

Mit Hilfe des Yad Vashem Instituts in Jerusalem stieß Lauren Leiderman auf ein Foto aus besseren Tagen, es zeigt die kleine Eva Goldberg zusammen mit zwei anderen Mädchen, Susanne Ledermann – und Anne Frank. Tatsächlich waren die beiden Familien miteinander bekannt. Das Foto entstand bei einem Urlaub der Goldbergs 1936 in Amsterdam, wo zwei Schwestern von Evas Mutter Helene lebten. Durch weitere Recherchen beim United States Holocaust Memorial Museum in Washington entdeckte Lauren Leiderman außerdem ein Poesiealbum der neunjährigen Eva Goldberg – mit einem Eintrag von Anne Frank: "Mit Vielen teile Deine Freuden, Mit Allen Munterkeit und Scherz. Mit Wenigen nur Deine Leiden, Mit Auserwählten nur Dein Herz. In Erinnerung an Deine Freundin Anne Frank".

Poesiealbum als außergewöhnliches Zeitdokument und Nukleus

Lauren Leiderman entdeckte nicht nur die "Görlitz Connection" von Anne Frank. Durch ihre Nachforschungen in internationalen Datenbanken und Archiven machte sie mehr als 120 Überlebende bzw. Nachfahren von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern aus Görlitz auf der ganzen Welt ausfindig und schaffte es, sie via Blog und Facebook-Gruppe miteinander zu vernetzen, als "Görlitz Family".

Renate Muhr war eine Freundin von Eva Goldberg, sie reiste 2023 im hohen Alter von 94 Jahren aus Brasilien zur Jüdischen Gedenkwoche nach Görlitz an. Bildrechte: OPEN house media

"Görlitz Family": Leiderman vernetzt Überlebende und Angehörige

Rund 600 Menschen gehörten der jüdischen Gemeinde an, als die neue Synagoge der Stadt 1911 geweiht wurde. Durch glückliche Umstände wurde der Jugendstilbau in der Pogromnacht vom 9. November 1938 nur leicht beschädigt, ein Feuer konnte rechtzeitig gelöscht werden. Nach 30 Jahren der Sanierung wurde sie am 12. Juli 2021 als Kulturzentrum und sakraler Raum wiedereröffnet. Dort versammelten sich im November 2021 auch Nachfahren der Menschen, auf die Lauren Leiderman im Poesiealbum von Eva Goldberg gestoßen war.

Jüdisches Leben in Görlitz: Auf Spurensuche mit Lauren Leiderman

Als die junge Amerikanerin Lauren Leiderman nach Görlitz kommt, ist sie beeindruckt von der reichen Geschichte und den vielen Kulturdenkmalen in der Stadt. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk
Die studierte Opernsängerin, die aus einer christlichen Familie aus Louisiana stammt, ist mit ihrem jüdischen Mann nach Görlitz gekommen. Bildrechte: MDR
Zur jüdischen Geschichte der Stadt gehört auch das jüdische Kaufhaus Totschek in der Steinstraße 2-5, gegründet 1868, das heute leer steht. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk
Die Familie wurde enteignet, das Kaufhaus "arisiert". Ihr gelang die Flucht in die USA. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk
Mit Tamara Meyer kam eine Enkelin des einstigen Kaufhaus-Besitzers Walter Totschek 2021 im Rahmen der ersten Jüdischen Gedenkwoche aus den USA nach Görlitz. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk
Vor dem Kaufhaus wurden 2021 Stolpersteine verlegt, die an die Familie Totschek erinnern. Bildrechte: OPEN house media
Erstmals wurden 2021 im polnischen Teil der Stadt drei Stolpersteine verlegt, die an die Familie Goldberg erinnern. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk
Lauren Leiderman recherchierte die Familiengeschichte der Goldbergs für die Stolperstein-Initiative in Görlitz. Bildrechte: OPEN house media
In der heutigen Kociuszki-Straße lebten die Goldbergs mit ihrer Tochter Eva. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk
Lauren Leiderman ging auch auf dem historischen Friedhof auf Spurensuche, eine jüdische Gemeinde gibt es heute in Görlitz nicht mehr. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk
Leiderman startete mit Mitstreitern das "Project Mitzvah", um den jüdischen Friedhof zu erhalten. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk
Mit Schülerinnen und Schülern eines Görlitzer Gymnasiums beteiligte sie sich am internationalen Butterfly-Project, das an das Schicksal jüdischer Kinder erinnert. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk
Erstmals kamen Überlebende und Angehörige 2021 zur Jüdischen Gedenkwoche nach Görlitz, die ebenfalls von Lauren Leiderman organisert wurde. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk
Lauren Leiderman ist studierte Opernsängerin und gestaltete das Programm in der Neuen Synagoge auch auf der Bühne mit. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk


In den Zoom-Calls der "Görlitz Family" war die Idee aufgekommen, sich vor Ort zu treffen. Die Idee zur ersten Jüdischen Gedenkwoche wurde geboren, organisiert wurde sie von Lauren Leiderman. Nach Görlitz kam auch Judi Hannes-Mendelsohn, mit der Leiderman begonnen hatte, das Netzwerk von Überlebenden und Angehörigen zu knüpfen.

Ich kannte vorher keine Menschen, die irgendeine Beziehung zu Görlitz hatten. Ich fühle mich jetzt wirklich in Frieden damit, akzeptiert von der Stadt. Oder sagen wir, von einigen Menschen hier.

Judi Hannes-Mendelsohn | Über die Rückkehr nach Görlitz im Rahmen der Gedenkwoche

Und erstmals wurden im selben Jahr Stolpersteine in Zgorzelec verlegt, vor dem Haus, in dem die Goldbergs bis zu ihrer Flucht lebten. Dank Lauren Leiderman dokumentiert der Stolperstein Guide auch ihr Schicksal.

Preis des European Leadership Network 2024 für Lauren Leiderman

Für ihr Engagement, jüdische Geschichte in Görlitz sichtbar zu machen und dem jüdischen Leben in Görlitz neue Impulse zu verleihen, wurde Lauren Leiderman am 24. September 2024 vom European Leadership Network (ELNET) ausgezeichnet.

Lauren Leiderman bei einer Projektarbeit mit Schülern des Augustum-Annen Gymnasiums in Görlitz Bildrechte: OPEN house media

Im Judentum sind Namen sehr wichtig. Ein Mensch ist erst dann tot, wenn sein Name vergessen ist.

Lauren Leiderman | Im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern in Görlitz

Zu diesem Engagement gehört auch das "Project Mitzvah", das sie anschob, um gemeinsam mit freiwilligen Helferinnen und Helfern auf dem verfallenden jüdischen Friedhof von Görlitz Grabsteine freizulegen und den Namen darauf nachzugehen. Überhaupt sucht sie die Begegnung mit jungen Menschen. Bei einem Workshop im Augustum-Anne-Gymnasium machte sie die Schülerinnen und Schüler mit Biografien von Görlitzer jüdischen Kindern bekannt: "Im Judentum sind Namen sehr wichtig. Ein Mensch ist erst dann tot, wenn sein Name vergessen ist", sagt Leiderman und holt spontan via Facetime-Anruf ein Mitglied der "Görlitz Family" in die Aula zum Workshop dazu.

Im "Project Mitzvah" engagieren sich freiwillige Helferinnen und Helfer zur Erhaltung des historischen jüdischen Friedhofs in Görlitz, dem größten jüdischen Friedhof der Region. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk

Fassungslos nach dem 7. Oktober

Lauren Leiderman will vermitteln, dass Geschichte nichts Vergangenes ist, sondern mit heute lebenden Menschen zu tun. Auf dramatische Weise wird das am 7. Oktober 2023 klar. Als die Terrorganisation Hamas Israel angreift und Kibbuzim in der Nähe des Gaza-Streifen überfallt, sind auch Nachkommen der Familie Hirschfeld bedroht, die einst aus Görlitz nach Israel flüchtete. "Es passiert wieder", stellt Lauren Leiderman entsetzt fest, sie startete eine Spendenkampagne für die Familie, die ihr Leben rettete, aber sonst alles verlor. Zur Situation hierzulande sagt ihr Mann, selbst den kurzen Weg zur Synagoge würde er nicht mehr mit Kippa gehen. Zugleich wünschen sich beide, dass die Mehrheit hier ihre Stimme gegen Antisemitismus erhebt.

Quelle: MDR Religion und Gesellschaft, Redaktionelle Bearbeitung: ks

Stadtführung mit Lauren Leiderman | 9. November 2024, 14 Uhr

Die Tour beginnt am 9. November 2024 um 14 Uhr am Postplatz und führt unter anderem über die Steinstraße, den Obermarkt und endet nach ca. 2 Stunden an der Neuen Görlitzer Synagoge.

Sie können sich unter info@meetingpointmm.eu unverbindlich für die kostenlose Teilnahme an dieser Tour anmelden.

Stolpersteine Initiative Görlitz-Zgorzelec | 9. November 2024

Die Stolpersteine Initiative Görlitz-Zgorzelec lädt am 9. November, ab 16 Uhr zum Reinigen der in Görlitz und Zgorzelec verlegten Stolpersteine

Treffpunkt
Jakobstrasse 5a
02826 Görlitz
E-Mail:info@jakob5a.de

Ökumenische Andacht in der Frauenkirche und Lichterweg zur Synagoge

Mit einer ökumenischen Andacht am Samstag, dem 9. November 2024, um 18:00 Uhr in der Frauenkirche Görlitz werden die Evangelische Innenstadtgemeinde und die Stadt Görlitz an die Opfer der Novemberpogrome des Jahres 1938 erinnern. Im Anschluss an die Andacht führt ein Lichterweg mit Kerzen von der Frauenkirche zum Kulturforum Görlitzer Synagoge.

Buchtipp

Lauren Leiderman
Das Poesiealbum von Eva Goldberg
Hentrich & Hentrich Verlag
124 Seiten
83 Abbildungen
Erschienen 2021 in Deutsch, Englisch, Polnisch

Erstausstrahlung der MDR-DOKU 2023

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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Lauren Leiderman and the Görlitz Family | 07. November 2024 | 22:40 Uhr