Rabbiner Elischa M. Portnoy 4 min
Bildrechte: Elischa M. Portnoy

Schabbat Schalom | MDR Kultur | 28.04.2023 Rabbiner Elischa Portnoy: Das Geheimnis des Bartes

30. März 2023, 14:49 Uhr

Männer sollen Bart tragen – so empfiehlt es die Tora. Ein wichtiges Gebot, meint Rabbiner Elischa Portnoy. Denn der Bart sei ein Sinnbild für die gelungene Verbindung von Intellekt und Gefühl. Und gerade Männer hätten manchmal Probleme, Zugang zu ihren Gefühlen zu finden, meint er in seiner Auslegung des Wochenabschnitts "Acharej-Kedoschim".

Am letzten Schabbat des Monats April lesen wir zum zweiten Mal einen Doppelwochenabschnitt: "Acharej-Kedoschim". Das sind zwei sehr interessante Abschnitte mit vielen Geboten, vor allem den Geboten, die mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun haben.

Jedoch gibt es dort auch ziemlich merkwürdige Gebote, die nicht so leicht zu verstehen sind. So treffen wir in Vers 19.27 auf ein Gebot, das mit dem Bart zu tun hat! "Ihr sollt nicht rund abnehmen die Seitenenden eures Haupthaares, und nicht zerstören die Enden deines Bartes“. Laut unserer Überlieferung soll der jüdische Mann seinen Bart nicht rasieren, sondern ihn wachsen lassen.

Was kümmert G’tt der Bart?

Wenn man ein wenig über dieses Gebot nachdenkt, wirkt es zunächst ziemlich komisch. Kümmert sich G’tt wirklich um eine solche "Kleinigkeit“ wie einen Bart?! Dabei stehen im gleichem Wochenabschnitt solche fundamentalen Gebote wie "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst", "stelle kein Hindernis vor den Blinden", "behandle den Fremden würdig" und viele andere. Ist es wirklich von Bedeutung, ob der Mann einen Bart trägt oder nicht?

Interessanterweise haben unsere Weisen den Bart als sehr wichtig angesehen. Nicht nur in der Antike und im Mittelalter, sondern auch heutzutage ist ein strengreligiöser Mann ohne einen Vollbart kaum vorstellbar. Im Talmud ist eine Diskussion aufgezeichnet, welcher von den großen Rabbinern in der damaligen Zeit als schön angesehen werden konnte. In die Diskussion wurden mehrere Vorschläge eingebracht, doch es fehlte der Name von Rabbi Johannan, dessen Schönheit fast legendär war. Als einer der Diskussionsteilnehmer sich wunderte, warum Rabbi Johannan nicht erwähnt wurde, erhielt er die Antwort: der einzige Grund dafür sei, dass dieser Rabbi keinen Bart trage. Was hat also der Bart an sich, dass ihm so ein hoher Wert beigemessen wird?

Bart als Kanal zwischen Kopf und Körper

Vielleicht kann gerade die moderne Wissenschaft darauf eine Antwort geben. Es gibt eine Krankheit, die Alexithymie heißt. Sie ist eine psychosomatische Störung und wird auch Gefühlskälte genannt. Damit wird die Unfähigkeit bezeichnet, eigene Gefühle adäquat wahrzunehmen und sie in Worten zu beschreiben. Auch wenn diese Krankheit allgemein nicht sehr bekannt ist, kommt sie nicht selten vor. Entsprechend einer Studie, die Matthias Franz, Professor für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, im Jahr 2008 durchführte, sind davon circa 10 Prozent der Bevölkerung in Deutschland betroffen! Merkwürdigerweise kommt - laut verschiedener Studien – die Alexithymie öfter bei Männern als bei Frauen vor. Dabei sind die Ursachen dieser Störung bis heute nicht geklärt.

Und da kommen wir zurück zum Bart. In der mystischen Lehre der Kabbala steht der Kopf für den Intellekt und der Körper für die Emotionen. Der Hals ist auf diese Weise ein enger Kanal zwischen Intellekt und Emotionen. Und dank des Bartes, sagt der mittelalterlicher Kabbalist Arisal (Rabbi Jizchak Lurja Aschkenasi), entsteht ein zusätzlicher Kanal, um Intellekt und Emotionen zu verbinden. Und da die Männer öfter von der Störung betroffen sind, kann gerade für sie der Bart hilfreich sein. Jedoch betonen auch unsere Weisen, dass der Bart allein bei solchen Krankheiten nicht funktioniert. Jeder Mensch muss selbst an seinen Schwächen arbeiten und versuchen, sich zu verbessern.

Inwiefern ein Bart zur Heilung von Gefühlskälte beitragen kann, können wir nicht sagen. Vielleicht wäre es ein interessanter Ansatz für eine Forschung zur Alexithymie-Heilung. Jedoch zeigt diese Angelegenheit wieder mal, wie spannend es um uns herum sein kein. Und dass man auch scheinbar merkwürdige Gebote der Tora nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Auch dort ist eine tiefe G’ttliche Weisheit verborgen.

Schabbat Schalom!

Zur Person: Rabbiner Elischa M. Portnoy Rabbiner Elischa M. Portnoy wurde 1977 in Nikolaew in der Ukraine geboren. Seit 1997 lebt er in Deutschland. 2007 erwarb er sein Diplom als Ingenieur für Elektrotechnik an der TU Berlin. 2012 schloss er seine Ausbildung am Rabbinerseminar zu Berlin ab und erhielt die Smicha.

Elischa M. Portnoy arbeitet als Militärrabbiner der Bundeswehr am Standort Leipzig und betreut die Jüdische Gemeinde in Halle / Saale. Er ist Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands (ORD). Er ist verheiratet mit Rebbetzin Katia Novominski und Vater von vier Söhnen.

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 28. April 2023 | 15:45 Uhr

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