Schabbat Schalom | Acharej | 29.04.2022 Elija Schwarz: Was das Schächten mit dem Leben zu tun hat

04. März 2022, 12:00 Uhr

Zu Beginn der Schöpfung waren die Menschen Vegetarier – so beschreibt es die Thora. Dann erlaubte ihnen Gott den Fleischverzehr, allerdings nur von geschächteten Tieren. Die Auslegung des Wochenabschnitts beschäftigt sich diesmal mit den jüdischen Speisegesetzen.

Der Wochenabschnitt Acharej enthält das die jüdischen Speisegesetze prägende Verbot des Blutgenusses. Am Beginn der Schöpfungsgeschichte war der Mensch noch Vegetarier: "Und Gott sprach: Siehe, ich geb‘ euch alles Kraut Samen tragend, das auf der Fläche der ganzen Erde, und jeglichen Baum, an welchem Baumfrucht, Samen tragend, euer sei es zum Essen."

Schon in Kapitel 9 lesen wir, dass No‘ach und seine Familie nach der Sintflut die Erlaubnis bekamen, tierische Nahrung zu essen. Doch der Blutgenuss wurde bereits verboten: "Alles, was sich reget, was da lebet, euer sei es zum Essen; wie das grüne Kraut gebe ich euch alles. Doch Fleisch mit seinem Leben, seinem Blute, sollt ihr nicht essen."

Schwindet das Blut, schwindet die Lebenskraft

In 3. Mosche, Kapitel 17, Vers 10 lesen wir nun: "Und jedermann aus dem Hause Jissra‘el oder von den Fremdlingen, die unter ihnen weilen, der irgend Blut isst, so werde ich meinen Zornblick richten auf die Person, die das Blut gegessen, und werde sie ausrotten aus der Mitte ihres Volkes."

Warum ist dieses Verbot des Blutverzehrs so wichtig – und damit eine Schlacht- und Verarbeitungsmethode, die das Blut aus dem Fleisch entfernt? Lesen wir weiter: "Ki-Nefesch HaBassar BaDam Hi - Denn die Seele des Fleisches, im Blute ist sie."

Die Thora ist natürlich kein medizinisches Werk, sondern ein Lebenswegweiser. Hier weist sie uns hin auf den Zusammenhang zwischen Blut und Leben. Denn bei großem Blutverlust verringert sich die Lebenskraft. Wird der Blutfluss nicht gestillt, so schwindet sie dahin. Für die Thora ist Blut der Lebensgeist. Und dieser gilt für die Thora als etwas Geheiligtes. Da der Mensch auch diesen Lebensgeist besitzt, ist es ihm nicht erlaubt, sich das Blut eines anderen Lebewesens einzuverleiben. Es ist eine Sünde, der Blutverzehr ein Zeichen des Animalischen. Der Mensch aber ist angehalten, den Weg in die Gegenrichtung zu beschreiten und seine tierischen Anteile hinter sich zu lassen.

Vom Christentum aufgegriffen: Sühne durch Blut

In unserem Wochenabschnitt kommt im eben zitierten Vers 11 zum Blutgenussverbot noch die Bestimmung hinzu, dass das Blut am Altar verwendet werden soll, um die Menschheit von Sünde und Unreinheit zu reinigen: "Denn die Seele des Fleisches ist im Blute, und Ich habe es für euch bestimmt auf den Altar, zu sühnen eure Seelen, denn das Blut selbst sühnt durch die Seele."

Der ehemalige britische Oberrabbiner Dr. Joseph Herman Hertz kommentierte hierzu: "Der Gebrauch von Blut, das bei den Sühneriten die Stelle des Lebens vertrat, versinnbildlicht die völlige Hingabe des eigenen Lebens an Gott. Und seine Darbringung brachte den Gedanken zum Ausdruck, dass die Unterordnung des Menschen unter den Willen des Allmächtigen die Sicherheit der göttlichen Vergebung in sich trägt."

Der Gedanke, dass das Blut eines Opfers die Menschheit von Sünde und Unreinheit reinigen kann, klingt nicht logisch? Diese Vorstellung fand aber weite Verbreitung. Denn sie wurde vom größten Lizenznehmer des Judentums, dem Christentum, aufgegriffen und dahingehend zu dem Gedanken entwickelt, dass die Sühne der Menschheit durch das Blut des Jesus von Nazareth geschehen sei.

Schächten ermöglicht Befolgung des Bibelverbots

Aber zurück zu unserer heutigen Thorastelle! Um dem dort niedergelegten Gebot Gottes zu entsprechen, hat sich die Praxis der Schechita, des Schächtens, entwickelt. Sie ermöglicht ein nahezu völliges Ausbluten des Schlachttieres und ergibt damit ein Fleisch, welches es Juden ermöglicht, das biblische Verbot des Blutverzehrs zu befolgen. Die Schechita sieht aus diesem Grund ein betäubungsfreies Schlachten vor. Deshalb steht es in der Kritik von Tierschützern.

EuGH: Schächt-Verbot zulässig

Über diesen Konflikt, Religionsfreiheit versus Tierschutz, wurde mehrfach richterlich geurteilt. In der Bundesrepublik wurde weise über Jahrzehnte hinweg ein Kompromiss gefunden. Der Europäische Gerichtshofs entschied im Dezember 2020 aber, dass das in zwei belgischen Provinzen erlassene Verbot des Schächtens nach europäischem Recht zulässig sei und mit der EU-Grundrechtecharta und der dort garantierten Religionsfreiheit vereinbar ist.

Den zahlenmäßigen Umfang koscherer Schlachtungen betrachtend, ist diese Entscheidung besonders absurd in einem Europa der Massenhaltung von Tieren, die nie Freiheit hatten, mit Medikamenten vollgepumpt sind und industriell geschlachtet in Fleischfabriken verarbeitet werden. Aber sie werden vorher betäubt! Das scheint hinreichend, um das Gewissen zu beruhigen. Der Mensch möchte das Tier zwar essen, aber nicht seinen Todeskampf akzeptieren.

Neben dem zunehmenden Antisemitismus und den Debatten um die rituelle Beschneidung könnte diese Einschränkung der Religionsfreiheit jüdisches Leben, so wie wir es kennen, in Europa langfristig unmöglich machen und Tausende von Juden aus diesem vertreiben.

Respekt vor dem jüdischen Leben sieht anders aus!

Zur Person: Elija Schwarz Elija Schwarz (*1969) arbeitet als Kantor und Religionslehrer für den Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen und betreut auch das Jüdische Seniorenheim Hannover. Zuvor war er fünf Jahre lang Kantor der Etz-Chaim-Synagoge in Hannover. Parallel dazu leitet seit er 2003 Gottesdienste im Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein. Wenn er nicht dienstlich unterwegs ist, lebt Elija Schwarz in Halle an der Saale.

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 29. April 2022 | 15:45 Uhr

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