Rabbinerin Esther Jonas-Märtin 5 min
Rabbinerin Esther Jonas-Märtin Bildrechte: MDR/ Michaela Weber
5 min

Wir brauchen die Freiheit offener Räume. Und wir brauchen Zugehörigkeiten - ein Bekenntnis zu jemandem oder etwas, damit wir unser eigenes Potenzial voll entfalten können, meint Rabbinerin Esther Jonas-Märtin.

MDR KULTUR - Das Radio Fr 19.05.2023 10:10Uhr 05:09 min

https://www.mdr.de/kultur/videos-und-audios/audio-radio/audio-2332374.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Audio

Schabbat Schalom mit Rabbinerin Esther Jonas-Märtin Wochenabschnitt "Bemidbar": Wir brauchen Zugehörigkeiten

02. September 2021, 14:49 Uhr

Wir brauchen die Freiheit offener Räume. Und wir brauchen Zugehörigkeiten - ein Bekenntnis zu jemandem oder etwas, damit wir unser eigenes Potenzial voll entfalten können, meint Rabbinerin Esther Jonas-Märtin in ihrer Auslegung des Wochenabschnitts „Bemidbar“.

Willkommen "Bemidbar", "in der Wüste". Der Text, den wir diese Woche lesen, ist die erste Lesung des 4. Buches Mose, und gleichzeitig ist es der hebräische Name für das gesamte Buch.
"Bemidbar", auf Deutsch: in der Wüste, handelt davon, wie die gesamte Gemeinschaft gezählt wird: die Großfamilien, die Männer über Zwanzig und so weiter, je nach ihrer Zugehörigkeit zu den zwölf Stämmen Israels. Doch warum geschieht diese Zählung in der Wüste? Warum wird dieser Ort so betont?

Der Midrasch (Bemidbar Rabbah 1:7) besagt, dass die Wüste als Ort frei ist, sie ist frei von anderen Völkern und ihren Götzendiensten. Vor allem aber: es ist die Wüste, die zur Einsicht führt, dass die Tora allgegenwärtig und für jeden Menschen verfügbar ist.

Die Rabbiner lehren, das drei Dinge eine Rolle spielten, als die Tora gegeben wurde: Feuer, Regen und Wüste. Woher wissen wir, dass die Wüste eine Rolle spielte? Wir wissen es, weil es in Bemidbar 1 gesagt ist: "Und Gott sprach zu Moses in der Wüste Sinai.“ Und warum wurde die Tora im Kontext dieser drei Dinge gegeben? "Weil diese drei Dinge frei sind für alle, so sollen auch die Worte der Tora frei für alle sein“.

Warum wurde die Tora in der Wüste gegeben?

Die erste Interpretation in diesem Midrasch scheint ausgesprochen ökonomisch zu sein. So wie die Wüste allen zugänglich ist, die sie betreten und bewohnen möchten, so ist es auch niemandem gestattet, Tora-Wissen zu monopolisieren.

In einer anderen Antwort auf die Frage, warum die Tora in der Wüste gegeben wurde, heißt es: "Jede Person, die sich nicht besitzlos machen kann wie die Wüste, kann die Thora nicht erwerben“. Mit anderen Worten: Voraussetzung für die Worte der Tora ist, dass Raum in uns selbst dafür da ist, ein Raum, so offen und frei wie der der Wüste.

Diese Erklärung ist psychologischer Natur. Sich "hefker", sich besitzlos zu machen, bedeutet, eine bestimmte Haltung anzunehmen: die einer inneren Offenheit, Freiheit und Weite. Das bedeutet aber nicht, dass ein Individuum nicht zu jemandem oder etwas Anderem gehören könnte.  

Und so scheinen die beiden Begriffe – Bemidbar und die Zählung – einander nur auf den ersten Blick zu widersprechen. Bemidbar steht für Freiheit. Mit der Zählung wird Zugehörigkeit festgestellt.  Doch gehört beides zusammen. Wir brauchen die Freiheit offener Räume. Und wir brauchen Zugehörigkeiten - ein Bekenntnis zu jemandem oder zu etwas, damit wir unser ganz eigenes Potential voll entfalten können.

Zugehörigkeiten erwirbt man sich durch Regelmäßigkeiten

Sich zu jemandem oder zu etwas zu bekennen ist ein Risiko. Ein Risiko, das in Zeiten, in denen die Auswahl schier grenzenlos ist, nur noch größer und unkalkulierbarer geworden ist. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, ist Zugehörigkeit nicht etwas, das man kaufen kann, auch wenn die Gesellschaft bzw. die Werbung Glückseligkeit vor allem durch Anschaffungen verspricht, aber ... es funktioniert nicht, jedenfalls führt auch das neueste Gerät nie zu dauerhaftem Glücksgefühl.

Gleiches gilt für Produkt- oder influencer communities, eben weil all diese Zugehörigkeiten eine meist nur kurze Halbwertszeit haben und sich dann entweder selbst auflösen oder durch etwas anderes abgelöst werden.
Zugehörigkeiten erwirbt man sich vor allem durch Regelmäßigkeiten, wie z.B. durch Zuhören, durch zugewandt sein und die Zuerkennung von Verantwortung, und last but not least insbesondere auch durch das Zusammenstehen in Krisen und Konflikten.

Es ist also kein Zufall, dass die Zugehörigkeit gezählt wird, als das Volk Israel durch die Wüste wandert, sich neu ordnen und bewähren muss.

Die zweifache Nobelpreisträgerin Marie Curie (1867-1934) sagt: "Man kann nicht hoffen, die Welt zum Besseren zu wenden, wenn sich der Einzelne nicht zum Besseren wendet. Dazu sollte jeder von uns an seiner eigenen Vervollkommnung arbeiten und sich dessen bewusst werden, dass er die persönliche Verantwortung für alles trägt, was in dieser Welt geschieht, und dass es die direkte Pflicht eines jeden ist, sich dort nützlich zu machen, wo er sich am nützlichsten machen kann."

Möge dieser Schabbat, dieses Wochenende, Ihre Augen, Ohren und Herzen öffnen. Mögen Sie in innerer Freiheit zuhören, auch dann, wenn es möglicherweise mal nicht angenehm ist. Mögen Sie zugewandte Entscheidungen treffen, auch dann, wenn es mal schwieriger wird.

Denken Sie daran: Auch Sie gehören dazu!

Schabbat Schalom!

Zur Person: Rabbinerin Esther Jonas-Märtin Esther Jonas-Märtin studierte Jüdische Studien, Literaturwissenschaft, Moderne Geschichte und Religionswissenschaften in Leipzig und Potsdam und erwarb 2006 den Master of Arts.

2017 schloss sie ihr Studium zur Rabbinerin mit dem Master of Arts in Rabbinics und der Rabbinischen Ordination in Los Angeles ab.

Sie ist Initiatorin und Gründerin des Lehrhauses Beth Etz Chaim in Leipzig (2018) sowie Referentin und Autorin einer Vielzahl von Artikeln und Beiträgen in den Themenbereichen: moderne jüdische Geschichte, Gender, Jiddische Poesie, Jüdische Ethik und Judentum.

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

Mehr über Schabbat Schalom im MDR

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 19. Mai 2023 | 15:45 Uhr