Schriftstellerin Svetlana Lavochkina im Porträt "Meine Oma hat geflüstert: 'Wir sind Juden. Sag's niemandem!'
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"Geschichten, die das Leben schreibt – das ist für mich das Spannendste überhaupt", sagt die Schriftstellerin Svetlana Lavochkina. Ihr Debütroman "Puschkins Erben" erschien 2015 und erzählt von einer ukrainisch-jüdischen Familie, die ihrer eigenen nachempfunden ist. Nach dem Fall der Mauer siedelte Svetlana Lavochkina nach Deutschland um. Heute lebt sie in Leipzig. Sie kehrt ihr Jüdischsein nicht nach außen, mag es auch nicht verstecken. "Gegen Antisemitismus hilft keine Angst, sondern nur Kommunikation", sagt sie.

Schriftstellerin Svetlana Lavochkina braucht zwei Dinge zum Arbeiten: einen starken Kaffee und ihr Notizbuch. Sie schreibt am liebsten über wahre Begebenheiten. Reine Fiktion mag die 48jährige nicht: "Das Leben ist viel krasser", sagt sie. Man müsse aber sehr vorsichtig sein beim Freilegen dieser Geschichten. Es sei wie bei archäologischen Funden. Man dürfe nichts beim Ausgraben verletzen.
Puschkins Erbin
Ihr Debüt "Puschkins Erben" erschien 2015 zunächst auf Englisch unter dem Titel "Zap" für Zaporoschje, die Industriestadt im Osten der Ukraine, 2019 dann auf Deutsch beim Leipziger Verlag Voland & Quist. Lavochkina nimmt darin Anleihen auch an der eigenen Familiengeschichte, sprachverliebt, tragikomisch und vor dem Hintergrund des Scheiterns einer gesellschaftlichen Utopie.
Dass sie jüdisch ist, verriet ihr die Großmutter, als sie sechs Jahre alt war:
Es war niemand im Zimmer. Aber meine Oma hat geflüstert: 'Wir sind Juden. Sag's niemandem!'
Auch jüdische Feste feierte man Zuhause eher im Verborgenen, wie Svetlana Lavochkina erzählt. Jüdinnen und Juden wurden aus ihrer Sicht in der damaligen Sowjetunion – wenn auch nicht offiziell – diskriminiert. Nach dem Abitur habe sie Pädagogik und Sprachen studieren wollen. Sechsmal habe sie eine Ablehnung erhalten, ehe sie doch noch den Studienplatz bekommen habe.
"Jede Sprache ist wie eine neue Seele"
Ende der 1990er Jahre siedelte sie dann mit ihrem Mann nach Deutschland um. Heute leben sie mit ihren zwei Söhnen in Leipzig. Die Kinder wachsen mehrsprachig auf. Svetlana Lavochkina erzählt, dass sie mit ihren Söhnen gern auf Englisch lese und rede:
"Jede Sprache ist wie eine neue Seele. Wenn es um die weltlichen Dingen geht, Alltagsprobleme, Kollegialität – dann ist es für mich Deutsch. Meine Kunstsprache war und bleibt Englisch. Und wenn etwas tief aus dem Bewusstsein kommt, wenn ich fluchen muss, starke Gefühle durchlebe, dann ist es Russisch."
Für Vielfalt im Glauben: "Ein Gott, verschiedene Provider"
Aber auch, wenn es um religiöse Dinge geht, bevorzugt Svetlana Lavochkina die deutsche Sprache. Seit der Corona-Pandemie sieht sie sich – so oft sie kann – die Online-Predigten des sächsischen Landesrabbiners Zsolt Balla an. Denn obwohl sie Mitglied der Jüdischen Gemeinde ist, besucht Svetlana Lavochkina fast nie die Synagoge, wie sie erzählt. Viele Rituale und Gebote seien ihr dennoch wichtig: "Es gibt da eine sehr tiefe Verbindung, nicht so zur Religion, es ist eher wie eine Angehörigkeit und die bedeutet viel. Ich weiß auch nicht, wie das zu erklären ist, aber ich habe ganz besondere Gefühle, wenn ich so einer religiösen Zeremonie beiwohne", erzählt Svetlana Lavochkina.
Es ist eine universelle Botschaft. Nur die Provider sind unterschiedlich; Judentum, Christentum oder Islam.
Svetlana Lavochkina geht es um Vielfalt. Im Glauben und in der Literatur.
Konflikte als vorantreibende Kraft
Mit dieser Botschaft fährt sie auf Lesereisen, um so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Diese Offenheit fällt ihr nicht immer leicht: "Ich habe viel damit zu tun gehabt in meinem Leben, dass ich zu wenig geredet habe, zu wenig Austausch betrieben habe, auch einsam war in bestimmter Hinsicht. Das wollte ich aber verändern."
Sie liest deutschlandweit. Ihre Zuhörerinnen sind oft jüdische Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion. Viele von ihnen kamen nach dem Mauerfall als Flüchtlinge und leben immer noch zurückgezogen. Mit ihren Geschichten will sie Mut machen auf ein selbstbestimmtes Leben, ohne Angst vor den Geschichten, die das Leben schreibt:
Ich denke, dass man keine andere Wahl hat, als sich dem Neuen zu stellen. Es ist nicht immer leicht, aufeinander zuzugehen, es kann schwierig sein, es kann zu Konflikten führen, aber Konflikte sind ja eine Kraft, die voran treibt.
Obwohl sie ihr Jüdischsein nicht nach außen kehrt, mag sie es auch nicht verstecken: "Gegen Antisemitismus hilft keine Angst, sondern nur Kommunikation", sagt sie. Inzwischen hat sie beim Leipziger Verlag Voland und Quist ihren zweiten Roman vorgelegt, der an den ersten anknüpft: "Die rote Herzogin" heißt das Buch, ebensfalls tragikomisch und beängstigend aktuell.
Buchtipp
Svetlana Lavochkina:
Puschkins Erben
Roman
Aus dem Englischen von Diana Feuerbach
Voland & Quist, 2019
368 Seiten
Svetlana Lavochkina:
Die rote Herzogin
Übersetzt aus dem Englischen von Diana Feuerbach,
Verlag Voland & Quist
128 Seiten,
20 Euro
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Glaubwürdig | 30. April 2022 | 18:45 Uhr