Schabbat Schalom mit Esther Jonas-Märtin Was eine Leipziger Rabbinerin zum Pessachfest 2022 empfiehlt

15. April 2022, 04:00 Uhr

Pessach ist mehr als ein Ritual oder ein Festessen. Schließlich erinnern sich Jüdinnen und Juden damit an den Auszug des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten. Ein guter Anlass zu fragen, wer die Rechtlosen und Ausgegrenzten von heute sind. Und wie wir uns ihnen gegenüber verhalten, meint die Leipziger Rabbinerin Esther Jonas-Märtin.

Heute Abend beginnt nicht nur Schabbat, sondern es ist der Beginn von Pessach, dem achttägigen Fest, das einmal im Jahr an den Exodus erinnert. Acht Tage lang erinnern und feiern wir unseren Weg aus der Sklaverei in Ägypten in die Freiheit.

Neben dem generellen Verzicht auf Gesäuertes gehört der Seder, ein rituelles Festmahl, selbst für säkulare Jüdinnen und Juden einfach dazu. Der Seder beinhaltet symbolische Speisen. Bittere Kräuter, die an die Bitterkeit der Sklaverei und Salzwasser, das an die Tränen der Versklavten erinnern. Andere Speisen stehen für den göttlichen Beistand auf dem Weg in die Freiheit: Zu nennen ist hier der Lammknochen, oder auch ein Ihnen sicherlich bekanntes Symbol für Fruchtbarkeit und den Verweis in die Zukunft: das Ei.

Von Generation zu Generation

Jüdische Familie begeht das Pessach-Fest, Mittelalterliche Miniatur, Biblioteca Palatina
Mittelalterliche Miniatur: Jüdische Familie begeht das Pessach-Fest Bildrechte: imago/Leemage

Kaum ein anderes Fest im jüdischen Jahreskreis verkörpert das Konzept "L'dor va'Dor/ Von Generation zu Generation" so sehr wie Pessach, genauer gesagt, wie der Ablauf des Sederabends. Alles beginnt mit der Aufgabe an alle Teilnehmenden, dass man den Seder so erleben soll, als wäre man beim Exodus persönlich dabei gewesen. Dabei ist die Haggadah, die den Exodus in wesentlichen Gedanken nacherzählt, sowohl Drehbuch des Seders als auch Quelle für weiterführende Gedanken oder mögliche Gesprächsthemen bei Tisch.

DAS Element jedoch, das die Idee des "L'dor va'Dor/Von Generation zu Generation" par excellence darstellt, sind die vier Kinder, die vier Fragen stellen. Die vier Kinder begegnen uns ungefähr in der Mitte des Rituals. Jedes dieser vier Kinder befindet sich an einer anderen Station der Wissens- und Wertebildung: Klug, gedankenlos, unbedarft und eines, das noch nicht weiß, wie Fragen gestellt werden.

Vier Kinder, mehr als vier Perspektiven

Während wir die vier Kinder mit jeweils einer Charakteristik beschreiben, ist klar, dass kein Kind nur "klug" oder "gedankenlos", nur "unbedarft" oder noch "ohne Fragen" ist. Wir sind uns dessen bewusst, dass  wir alle an verschiedenen Punkten unseres Lebens diese vier Kinder verkörpert haben. Wir waren engagiert, ablehnend, passiv oder auch einfach nur konfus. Wir haben die cleversten Fragen gestellt, wir haben provoziert und herausgefordert, wir wollten einfach nur Antworten bekommen, oder wir waren so durcheinander, dass uns die Sprache versagte.

Finden Sie sich wieder?

So wie wir all das und alle diese Kinder waren, so sind wir all das auch als Erwachsene: Wir sind achtsam oder fühlen uns entfremdet, wir sind direkt oder bleiben stumm.

Finden Sie sich wieder?

Pessach ist die Erinnerung an unsere Zeit in Ägypten, versklavt, rechtlos und demzufolge  von der Gesellschaft ausgegrenzt. Jedes Jahr sind es insbesondere diese vier Fragen, die die Tore öffnen und den Blick auf die Exodus-Erfahrung in unserem Hier und Jetzt frei geben: Wo und wer sind die Rechtlosen, die Versklavten und Ausgegrenzten heute?

Wie verhalten wir uns dazu? Sind wir engagiert und fragen, was wir tun können? Sind wir frustriert und fragen, was das Ganze denn mit uns zu tun hat? Sind wir skeptisch und fragen, ob das Alles nicht nur Einzelfälle sind? Oder wissen wir nicht, wo wir eigentlich anfangen sollen?

Finden Sie sich wieder?

Denken wir über unsere Beziehungen nach!

Es ist ganz im Sinne der Exodus-Erzählung dass wir über unsere Beziehungen nachdenken: zu unseren Traditionen, zu Ereignissen, die uns prägten, oder zu den Orten, mit denen wir uns verbunden fühlen. Und dass wir uns fragen, wie wir unserer Verantwortung gerecht werden – lokal und global.

Pessach ist mehr als ein Ritual oder ein Festessen.

Pessach bedeutet, auch die unbequemen Fragen zu stellen.  Wo habe ich andere ausgegrenzt? Wo habe ich rassistisch oder antisemitisch gedacht? Wo habe ich andere in ihrer Freiheit behindert?

Pessach bedeutet, den Mut in uns selbst zu finden, für mehr einzutreten – nicht nur für unsere eigene persönliche Freiheit und Gerechtigkeit.

Pessach bedeutet, alle Sinne zu öffnen: Augen, Ohren und Herzen, damit wir alle in Freiheit und Frieden leben können.

Ein friedvolles und inspirierendes Pessachfest! Schabbat Schalom!

Zur Person: Esther Jonas-Märtin Rabbinerin Esther Jonas-Märtin studierte Jüdische Studien, Literaturwissenschaft, Moderne Geschichte und Religionswissenschaften in Leipzig und Potsdam und erwarb 2006 den Master of Arts. Im Jahre 2017 schloss sie das mehrjährige Studium zur Rabbinerin mit dem Master of Arts in Rabbinics und der Rabbinischen Ordination in Los Angeles ab. Sie ist Initiatorin und Gründerin des Lehrhauses Beth Etz Chaim in Leipzig (2018), sowie Referentin und Autorin einer Vielzahl von Artikeln und Beiträgen in den Themenbereichen: moderne jüdische Geschichte, Gender, Jiddische Poesie, Jüdische Ethik und Judentum.

Schabbat Schalom bei MDR KULTUR Die Sendung bezieht sich auf die jüdische Tradition, die fünf Bücher Moses im Gottesdienst der Synagoge innerhalb eines Jahres einmal vollständig vorzulesen. Dabei wird die Thora in Wochenabschnitte unterteilt. Zugleich ist es häufige Praxis, die jeweiligen Wochenabschnitte auszulegen.

Bei MDR KULTUR geben die Autorinnen und Autoren alltagstaugliche Antworten auf allgemeine Lebensfragen, mit denen sie auch zur persönlichen Auseinandersetzung anregen. Zugleich ist "Schabbat Schalom" eine Einführung in die jüdische Religion, Kultur und Geschichte.

"Schabbat Schalom" ist immer freitags um 15:45 Uhr bei MDR KULTUR zu hören sowie online abrufbar bei mdr.de/religion.

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Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR | 15. April 2022 | 15:45 Uhr