Sexualisierte Gewalt gegen Kinder Missbrauchsfall Heidenau: Wie die katholische Gemeinde erstmals über das Tabu redet

25. März 2024, 10:55 Uhr

Jahrzehnte lang ein Tabu wurde im sächsischen Heidenau nun erstmals öffentlich darüber geredet: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder in der katholischen Gemeinde des Ortes. Die Taten eines Priesters in den 1960er-Jahren gelten als die schwersten bisher bekannten Fälle im Bistum Dresden-Meißen. Vor elf Jahren hatten sich erstmals Betroffene an den Bischof gewandt – am vergangenen Donnerstagabend lud das Bistum die Gemeinde zu einem Auftakt der Aufklärung ein. Was kam ans Licht, was blieb im Dunkeln?

Wer die katholische Kirche Sankt Georg in Heidenau betritt, sieht einen schlichten Raum in warmen Farben. Und einen Tatort. Auf der Empore über der Darstellung von Jesu Kreuzigung soll in den 1960er-Jahren der damalige Pfarrer Herbert Jungnitsch mit weiteren Männern Mädchen im Kindergarten- und Grundschulalter auf schwerste Weise sexuell gequält haben. Ebenso in der Sakristei.

"Es lässt mir keine Ruhe"

Kirche in Heidenau
Sankt Georg in Heidenau Bildrechte: MDR/Andreas Roth

Benno Kirtzel ist seit fast zwei Jahren Gemeindereferent der Pfarrei und will Licht ins Dunkel bringen: "Es lässt mir natürlich keine Ruhe. Ich verstehe Jesu Leben, Jesu Botschaft so, sich mit den Kleinsten, mit den Schwächsten zu solidarisieren. Das steht dem, was hier unter Pfarrer Jungnitsch passiert ist, natürlich diametral entgegen."

Vier betroffene Frauen haben sich bisher gemeldet. Eine höhere Dunkelziffer vermutet das Bistum Dresden-Meißen. Dessen Justiziar spricht von schwerster sexualisierter Gewalt, zum Teil verübt mit liturgischen Gegenständen. Es soll mehrere Mittäter und Mitwisser in der Gemeinde gegeben haben. Doch darüber wurde über Jahrzehnte unter Heidenaus Katholiken höchstens getuschelt.

Die Gemeinde als Zuhause und Tatort

Benno Kirtzel läuft die Treppe hoch zum Gruppenraum im Heidenauer Gemeindehaus. Hier trafen sich auch die Kinder. Dunkles Holz, eine schmale Tür führte direkt in die Wohnung des Pfarrers. Noch ein Tatort. Wenn der Gemeindereferent die Abgründe in der Geschichte seiner Gemeinde anspricht, erlebt er bei Nicht-Betroffenen viel Widerstand gegen eine Einsicht, die Kirtzel so formuliert: "Ja, ich hatte hier eine schöne Kindheit und Jugend, gleichzeitig muss ich den Pfarrer neu bewerten. Diese Gleichzeitigkeit von Familie, Zuhause, von Gemeinde – und derselbe Raum ist der Raum von Verbrechen."

Betroffene spricht vom "Onkel Pfarrer" und ihrer "vereisten Seele"

Dieser gebrochenen Geschichte wollte sich das Bistum Dresden-Meißen an einem Aufarbeitungsabend am 16. September erstmals öffentlich stellen. Die Aula des Heidenauer Gymnasiums ist gefüllt. Eine Betroffene erzählt von dem geliebten "Onkel Pfarrer", von ihrer Liebe zum Glauben und ihrer Kirche – aber auch von den Folgen der Gewalt: von einer vereisten Seele. Am Ende klatschen die Zuhörenden für den Mut und die Kraft dieser Frau. Der Generalvikar des Bistums Dresden Meißen, Andreas Kutschke antwortet ihr:

Man kann eigentlich nicht mehr aussprechen als die Bitte um Entschuldigung und das Bedauern, dass es nicht möglich war, dass die Institution solche Verbrechen in ihrer Mitte verhindert hat.

Andreas Kutschke Generalvikar des Bistums Dresden Meißen

Die Bitte auszusprechen, das Geschehen zu verzeihen, das könne man nicht verlangen: "Das ist zu groß."

Aufarbeitung in Heidenau als Pilotprojekt

Das Bistum will die Aufarbeitung in Heidenau zu einem Pilotprojekt machen für Fälle in anderen Gemeinden – die es ebenfalls gibt, wie der Generalvikar einräumt. Bisher allerdings empfinden viele Betroffene die Aufarbeitung durch die Kirchenoberen als viel zu schleppend. Auch Bischof Heinrich Timmerevers gibt an diesem Abend zu:

Da ist die Kirche eine Lernende, aber sie lernt langsam – das ist leider so. An diesem Punkt müssen wir etwas tun, da müssen wir entschiedener rangehen.

Heinrich Timmerevers Bischof Dresden-Meißen

Kein Gras drüber: Initiativgruppe kümmert sich um Aufklärung

Friedhof
Jungnitschs Grab soll eingeebnet werden. Bildrechte: MDR/Andreas Roth

Die Basis der Verbrechen des Heidenauer Priester Herbert Jungnitsch war seine klerikale Macht als Priester – das ist auch Bischof Heinrich Timmerevers klar: "Und es ist im Letzten eine Frage an die Kirche, wie wir als Kleriker leben, und an den Klerikalismus – und den müssen wir überwinden."  

Das Grab des Priester-Verbrechers Jungnitsch auf dem Heidenauer Südfriedhof ist mit frischen weißen Rosen geschmückt. Die Kirchgemeinde will es einebnen lassen – aber Gras wird noch lange nicht über die Geschichte wachsen, das stellt auch der Traumatherapeut Gregor Mennicken an dem Abend klar:

In gewisser Weise ist der Fall abgeschlossen, weil der Täter ist tot, der Haupttäter – aber es gab Familien, Täterfamilien, die mitgemacht haben, und diese Familien leben auch weiter in Heidenau.

Der Dresdner Arzt hat zusammen mit Betroffenen die Initiativgruppe für Aufklärung und Aufarbeitung gegründet: "Drei Kilometer von hier war einer der Haupttäter des Kinderpornonetzwerks Elysium im Pfarrgemeinderat. Wir müssen hingucken, es ist überall." Die Pfarrei in Heidenau will Anfang des nächsten Jahres ein Präventionskonzept zum Schutz von Kindern und Jugendlichen fertigstellen.

Am Ende des Aufklärungsabends gab es keinen Segen und kein Gebet – die Wunde soll sichtbar bleiben, so lange sie da ist.

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 19. September 2021 | 09:15 Uhr