Kerzen auf dem Breitscheidplatz in Berlin, ein halbes Jahr nach dem Anschlag.
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Reportage Das zweite Leben

22. Juli 2023, 15:27 Uhr

Wie meistert man das Leben nach einem Terroranschlag? Gibt es einen Weg zurück in den Alltag? Opfer und Hinterbliebene verarbeiten solch eine Tragödie unterschiedlich. Was viele eint, ist die Enttäuschung über die mangelnde staatliche Unterstützung. Anna Kluehspies und Judith Gridl recherchierten.

Djerba, Istanbul, Paris und Nizza, im Advent 2016 dann der Breitscheidplatz in Berlin: Schauplätze, an denen terroristische Anschläge viel Leid und Schmerz über Menschen gebracht haben. Über die Attentäter und die mutmaßlichen Hintergründe nach einer terroristischen Tat wird dann viel berichtet. Die Opfer und Hinterbliebenen werden allerdings schnell wieder vergessen. Dabei müssen sie trotz aller körperlichen und seelischen Wunden weitermachen - so als wäre nichts gewesen - um im Beruf, in der Familie, im ganz normalen Alltag zu bestehen. Viele Hinterbliebene haben quälende Fragen: Wie sahen seine letzten Minuten aus? Musste meine Angehörige, mein Angehöriger leiden, ums Leben kämpfen, rennen? Beantworten kann das meist niemand.

Halt und Unterstützung finden

Manche Überlebende und Angehörige verarbeiten die Tragödie alleine, andere finden in Selbsthilfegruppen Unterstützung und Halt. Eine dieser Selbsthilfegruppen leitet Uwe Riske in Düsseldorf. Der Pfarrer und Notfallseelsorger erlebt, was mit den Menschen passiert, wenn ihre Welt zusammenbricht.

Hier kann man die Geschichten erzählen, die einem auf der Seele liegen und die vielfach täglich das Leben bestimmen, beschäftigen, blockieren. Und hier kann man sich öffnen, so, wie man es braucht. Das erleben sie als besonders kostbar.

Pfarrer Uwe Riske

Es müsste mehr solcher Angebote geben, ist Riske überzeugt. Denn seitdem sich diese Gruppe gefunden hat, kommen Betroffene auch von weit her. So auch Jenny und ihre Familie, die zu jedem Treffen eigens aus Sachsen nach Düsseldorf kommen. 2016 starb ihre Großmutter bei einem Anschlag in Istanbul. Monatelang musste Jenny psychologisch betreut werden. Vom Tod der Oma erfuhren sie und ihre Eltern aus dem Internet, auf eine amtliche Bestätigung von deutscher Seite mussten sie lange warten. Seit dem Anschlag ist alles anders.

Ich meide große Menschenmengen... Es ist im Gehirn verankert und nicht so einfach abzulegen. Man erschreckt sich, wenn etwas laut knallt, wenn eine Tür knallt, wenn eine Autotür zugeschmissen wird, wenn eine Papiertüte platzt.

Jenny aus Sachsen

Alle in der Selbsthilfegruppe wissen, wovon der andere spricht, wissen, wie es dem anderen geht. Intensiver sei das Mitfühlen, sagt Michaela, die gemeinsam mit ihrem Mann die Selbsthilfegruppe besucht.

Dieser Knoten im Herzen, der geht nie weg, der wird uns wahrscheinlich für immer begleiten.

Michaela

In Gesprächen mit Opfern und Hinterbliebenen wird auch eines klar: In ihrer Notsituation unmittelbar nach Anschlägen hätten sie sich mehr Unterstützung vom deutschen Staat erhofft. Sie wurden enttäuscht.

Aktiver Opferschutz nötig

Dabei gibt es eine staatliche Anlaufstelle, die Koordinierungsstelle der Bundesregierung zur Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhilfe (NOAH), gegründet nach dem Anschlag auf Djerba vor 15 Jahren. Vorangetrieben hat das auch Michael Esper, der mit seiner Familie den Anschlag auf Djerba überlebte und sich danach vom Staat allein gelassen fühlte. Mit anderen Opfern erarbeitete er einen Forderungskatalog zum Opferschutz an die Politik. Umgesetzt scheint davon nicht. "Das finde ich sehr traurig", sagt Esper.

Ich muss ganz ehrlich sagen, dann ist die ganze Arbeit, die wir in den Jahren geleistet haben, umsonst.

Michael Esper

Auch Stephan Herrlich, Bruder eines Berliner Opfers fordert, der Staat müsse sich mehr um die Opfer von Terroranschlägen kümmern. Drei Tage haben er und die Familie keine Auskünfte erhalten. Es habe keinen Verantwortlichen seitens des Staates gegeben, der ihnen Ansprechpartner habe nennen und Informationen habe geben können.

So geht es in Frankreich

Ganz andere Erfahrungen machte dagegen Vincent Nöthen. Bei den Anschlägen in Paris wurde er verletzt. Obwohl er nicht darum bittet, bietet ihm der französische Staat schon kurz nach dem Anschlag Hilfe an. Bis heute bekommt er auch in regelmäßigen Abständen Briefe, wurde vor einem Jahr auch zur Gedenkveranstaltung eingeladen. Die Solidarität der Franzosen mit den Opfern und Angehörigen des Anschlags von Paris hat ihn nachhaltig beeindruckt.

Mich hat es sehr gefreut, dass man nicht einfach so untergeht. Sondern dass sich Gedanken macht, dass es denjenigen, denen so etwas widerfahren ist, vielleicht wichtig ist, noch einmal zurückzukommen...

Vincent Nöthen

Immerhin: Im März 2017 hat die Bunderegierung den ehemaligen Ministerpräsidenten Kurt Beck zum Beauftragten für die Opfer und Hinterbliebenen des Terroranschlags auf dem Breitscheidplatz ernannt. Ein Jahr nach dem Attentat fordert er die Schaffung zentraler Strukturen für eine schnelle und unbürokratisch Hilfe sowie die Erhöhung von Entschädigungszahlungen ein. Und auf einer Gedenkveranstaltung räumte Bundeskanzlerin Angela Merkel Versäumnisse ein. Sie erklärte auch, Gespräche mit den Hinterbliebenen hätten ihr gezeigt, welche Schwächen der Staat in dieser Situation gezeigt habe.

Dieses Thema im Programm: 18. Januar 2018 | 22:35 Uhr