Demonstranten vor ironischem Schild 'Geldautomat ab 2040 barrierefrei nutzbar'
Demonstranten mit ironischem Schild vor Treppen-Attrappe: "Geldautomat ab 2040 barrierefrei nutzbar" Bildrechte: IMAGO

Reaktionen Was das neue Barrierefreiheitsgesetz bringt

08. November 2023, 17:57 Uhr

In Deutschland leben etwa 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen. Das am 20. Mai vom Bundestag verabschiedete Gesetz zur Stärkung der Barrierefreiheit soll ihnen helfen, ganz alltägliche Dinge digital zu erledigen oder Angebote am Bank- oder Ticketautomaten beispielsweise barrierefrei nutzen zu können. So soll eine EU-Richtlinie umgesetzt werden, die Hürden beim Zugang zu Informationen und Kommunikation abbaut. Betroffenenverbände und auch der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, sehen darin bestenfalls einen ersten Schritt auf dem Weg in die (digitale) Barrierefreiheit.

Einkaufen, Termine planen oder mit anderen Menschen über die sozialen Medien in Kontakt bleiben – gerade in Pandemiezeiten zeigt sich, wie digitale Angebote den Alltag nicht nur erleichtern können, sondern sogar essenziell werden. Doch für Menschen mit Behinderung und auch Ältere sind solche Angebote nach wie vor nicht immer zugänglich. "Barrierefreiheit hat eine tiefe soziale Dimension – und die umfasst so viel mehr als die Rampe vor dem Haus", sagt dazu Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung und selbst von Geburt an stark sehbehindert.

Barrierefreiheit hat eine tiefe soziale Dimension – und die umfasst so viel mehr als die Rampe vor dem Haus.

Jürgen Dusel Behindertenbeauftragter der Bundesregierung

Lange Übergangsfristen

An der Misere, die Inklusionsaktivistinnen und -aktivisten schon lange beklagen, soll sich nun etwas ändern. Der Bundestag billigte am 20. Mai das lang erwartete Gesetz zur Stärkung der Barrierefreiheit und setzt damit eine EU-Richtlinie um, die Hürden beim Zugang zu Informationen und Kommunikation abbauen soll. Durch die Neuregelung soll es Menschen mit Einschränkungen künftig möglich sein, ganz alltägliche Dinge und Dienstleistungen via Computer, Tablet oder Bank- und Ticketautomat barrierefrei zu nutzen. Grundsätzlich gilt sie aber erst ab dem 28. Juni 2025. Für Selbstbedienungsterminals wurde sogar eine Übergangsfrist von 15 Jahren eingeräumt.

Barrierefrei nur am heimischen Computer?

So sparen Betroffenenverbände denn auch nicht mit Kritik. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband ( DBSV ) kritisiert, Deutschland entscheide sich bei der Umsetzung der EU-Richtlinie nur für die "Minimallösung". Rechtsreferentin Christiane Möller hält das Gesetz für "mutlos und unambitioniert"

Präsidentin Sozialverband VdK Deutschland Verena Bentele
VdK-Präsidentin Verena Bentele Bildrechte: IMAGO / Hartenfelser

Als Präsidentin des Sozialverbands VdK fordert Verena Bentele, die Bundesregierung müsse an Tempo zulegen. Zwar begrüße der VdK die Neuregelung im Grundsatz. Es sei eine umfassende Definition von Barrierefreiheit aufgenommen worden. Produkte und Dienstleistungen gelten demnach nur dann als barrierefrei, wenn Menschen mit Behinderungen sie – so wie jede, jeder andere auch – nutzen können. Allerdings müsse es Konsequenzen haben, wenn ein Produkt oder eine Dienstleistung nicht barrierefrei sei. Da seien Marktüberwachungsbehörden gefragt. Zugleich betont sie, dass es nicht allein um die Nutzbarkeit digitaler Angebote am heimischen Computer gehe und bemängelt, dass die bauliche Umwelt in der Neuregelung komplett außen vor bleibe.

Was nutzt ein barrierefreier Fahrkartenautomat, der nur über Stufen zu erreichen ist? Treppen, enge Türen, kaputte oder nicht vorhandene Fahrstühle sind bittere Realität.

Verena Bentele Präsidentin Sozialverband VdK

Bentele verwies als Beispiel auf absurde Hürden etwa im Regionalverkehr. Tickets für eine Teilstrecke im Fernverkehr gebe es am Automaten barrierefrei, Echtzeit-Reiseinformationen zu Störungen inklusive. Das ändere sich, sobald man auf den Regionalverkehr umsteige, so Bentele. Die Übergangsfristen für eine Umstellung seien viel zu lang. Die Regierung müsse endlich erkennen, dass Barrierefreiheit "kein lästiges Übel" sei, sie von vornherein mitzudenken könne einen Innovationsschub auslösen.

Barrierfreiheit als Innovationstreiber erkennen

Ähnlich äußerte sich der Behindertenbeauftragte der Bundesbeauftragte, Jürgen Dusel, auf dem Digital Accessibility Summit, einer Konferenz für Digitale Barrierefreiheit aus Anlass des weltweiten Aktionstages ebenfalls am 20. Mai.

Barrierefreiheit sei kein "nice to have".

Wir müssen dazu übergehen, Barrierefreiheit als Qualitätsstandard für ein modernes Land zu begreifen.

Jürgen Dusel Behindertenbeauftragter der Bundesregierung

Dusel zufolge leben in Deutschland etwa 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen. Digitale Inklusion bedeute für sie nicht nur, ins Netz zu kommen, erläuterte er. Wichtige Aspekte barrierefreier Angebote seien beispielsweise beschreibende Begleittexte für Fotos, Untertitel, Audiodeskriptionen und Informationen in sogenannter Leichter Sprache. Neben den rechtlichen Rahmenbedingungen für die digitale Barrierefreiheit fordert Dusel mehr Expertise bei den Verantwortlichen auch in der Wirtschaft. So müsste das Thema Barrierefreiheit stärker in der Ausbildung von Software-Entwicklern, Ingenieuren oder Medienleuten verankert werden. Nur so ließe sich auch der typische Fehler vermeiden, erst etwas hinzustellen, sei es nun ein Gebäude oder eine digitale Infrastruktur, um dann mangelnde Barrierefreiheit festzustellen.

Gesamtgesellschaftliches Anliegen

Digitalsstaatsministerin Dorothee Bär betonte auf der Konferenz, für Menschen mit Behinderungen sei Barrierefreiheit ein Grundrecht und essentiell. Aber sie sei auch ein großer Vorteil und eine Bereicherung für alle anderen Gesellschaftsgruppen: Kinder, Jugendliche, betagte Menschen, Menschen mit anderen Sprach- und Kulturhintergründen und Menschen mit noch wenigen digitalen Kompetenzen, so Bär. Mit mehr Barrierefreiheit komme mehr Vielfalt in die digitale Welt. Bei der Umsetzung sei man in Deutschland leider noch nicht so weit, wie sie es sich wünsche. Das habe oft finanzielle Gründe.

Digitale Barrierefreiheit muss so selbstverständlich sein wie Brandschutz.

Dorothee Bär Digitalstaatsministerin

In den meisten Fällen fehle allerdings einfach noch das Bewusstsein für die gesamtgesellschaftliche Aufgabe, digitale Barrierefreiheit zu schaffen, die so selbstverständlich sein sollte "wie Brandschutz". Sie hofft auf die Privatwirtschaft, da die digitale Barrierefreiheit sowohl für die Kundenperspektive als auch für die Beschäftigten im Unternehmen ein wichtiger Aspekt sei.

Das neue Barrierefreiheitsgesetz Das am 20. Mai 2021 vom Bundestag verabschiedete Gesetz zur Stärkung der Barrierefreiheit folgt einer EU-Richtlinie, Hürden beim Zugang zu Informationen und Kommunikation für Menschen mit Beeinträchtigungen abzubauen.

Das Gesetz gilt für digitale Anwendungen via Computer, Tablet, Geld- oder Ticketautomaten, Mobiltelefone, Router, Fernseher mit Internetzugang und E-Book-Lesegeräte.

Daneben werden auch für Telefon-, Messenger- und Internetzugangs-Dienste sowie die Personenbeförderung, Bankdienstleistungen und den Online-Handel Regelungen getroffen.

Ob die Anforderungen zur Barrierefreiheit eingehalten werden, sollen die Länder überwachen.

Grundsätzlich gilt die Neuregelung ab dem 28. Juni 2025. Für Selbstbedienungsterminals wird eine Übergangsfrist von 15 Jahren eingeräumt.

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt | 11. April 2021 | 08:00 Uhr

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