Steiniger Weg zum passenden Job"Ich bin Autist"
Ihre Schul- und Ausbildungsabschlüsse sind oft überdurchschnittlich, aber im Job können sie kaum Fuß fassen. 90 Prozent der autistischen Menschen haben keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt. Ihre Karrieren sind geprägt von Brüchen, Jobwechsel, Arbeitslosigkeit. Warum das so ist und welche Lösungen es gibt, davon erzählt der Film von Elke Thiele.
Michael Kretschmer, heute angestellt bei der DHL, hat alle zwei bis drei Jahre die Arbeitsstelle gewechselt. Wie andere Autisten auch, kann er Umgebungsreize schlecht filtern, Kommunikation stresst ihn. Ständige Überforderung und das Gefühl, nicht zu genügen, werfen ihn regelmäßig aus der Bahn. Er selbst ahnte es schon längst, aber erst jetzt, mit 57 Jahren, hat er die Diagnose schwarz auf weiß. Er weiht die Kollegen ein und hofft auf Akzeptanz und Rücksichtnahme. In Zukunft will er sich nicht mehr verstellen müssen - denn dieses "Maskieren" raubte ihm zunehmend die Kraft für die Arbeit.
Ich habe es noch nie irgendjemandem gesagt. Und da bin ich froh, dass ich es jetzt gemacht habe.
Michael Kretschmer
Die Gründe für die geringe Beschäftigungsquote bei Menschen im Autismus-Spektrum sind vielfältig. Kollegen mit Ticks werden als anstrengend empfunden, introvertierten Einzelgängern wird die Teamfähigkeit abgesprochen, ihr Wunsch nach strukturierten Abläufen als unflexibel abgetan. Wissen und ein Mindestmaß an Verständnis hilft - und staatliche Förderung auch. Auf die haben Menschen mit Behinderung nämlich gesetzlichen Anspruch.
Der schwere Weg aus der Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt
Die Werkstatt für behinderte Menschen hat Maria Schünemann den Einstieg in das Erwerbsleben geebnet. Nach Rückschlägen in der Ausbildung und Arbeitslosigkeit konnte die Autistin hier eine Aufgabe und Anschluss finden. Als sie dann in den ersten Arbeitsmarkt wechseln wollte, wurde sie von der Werkstatt unterstützt.
Doch die ersten Versuche von Maria scheiterten an ihren autismus-typischen Problemen in der sozialen Interaktion. Arbeitgeber machten ihr keine Hoffnung: "Der erste Arbeitsmarkt ist hart. Und du bist zu lieb für diese Welt. Auf dem ersten Arbeitsmarkt würdest du untergehen", so die Begründungen der Verantwortlichen gegenüber Maria.
Heute hat Maria Schünemann einen festen Arbeitsplatz, sie betreut Senioren in einem Pflegeheim. Ihr Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt wird gefördert mit dem "Budget für Arbeit“, einem Lohnkostenzuschuss. Der soll ausgleichen, was Maria Schünemann weniger schaffen kann als ihre Kollegen.
Austausch ist dringend notwendig
Für Menschen mit Behinderung - zu denen zählen Autisten - gibt es verschiedene Fördermöglichkeiten.
Ein Austausch dazu findet bei den regelmäßigen Treffen des "Netzwerk Autismus und Arbeit" in Leipzig statt. Jobcenter, Sozialamt und Beratungsstellen sind verantwortlich für die berufliche Integration von Menschen mit Behinderung. Organisatorin Carina Schipp bringt sie alle an einen Tisch.
Die kochen alle ihre eigene Suppe und niemand weiß so richtig, was der andere macht und auch nicht, was es für Angebote gibt. Man kann hier erfahren, welche Personen was machen.
Carina Schipp
Anlaufstellen für Auszubildende mit Hilfebedarf schaffen
Die Frage, wo passe ich beruflich hin, überfordert viele Jugendliche - Autisten in noch stärkerem Maße. Berufsbildungswerke sind in Deutschland die üblichen Anlaufstellen für Auszubildende mit Hilfebedarf.
Xenia Klunker hat in Gera die Ausbildung zur Fachpraktikantin für Bürokommunikation begonnen. Im dortigen Berufsbildungswerk sind 80 von 300 jungen Menschen Autisten. Diese Zielgruppe wird hier schon seit Jahren bedürfnisorientiert betreut. Seit 2019 gibt es in Deutschland das Siegel "autismusgerechtes Berufsbildungswerk“. Das Geraer BBW will im nächsten Jahr die Zertifizierung erhalten. Sandra Lüth vom BBW hat die dafür notwendigen 64 Kriterien im Blick, zu denen angepasste Ausbildungs- und Wohnformen sowie spezifisch geschultes Personal gehören:
"Bei unseren Speiseräumen haben wir auch einen Speiseraum der Stille. Der ist von außen nicht einsehbar, da gibt es auch weniger Sitzplätze. Wir haben in unserem Psychologischen Fachdienst auch Entspannungsräume. Und pädagogisch ist es natürlich so, dass gefordert ist, dass die Jugendlichen über eine längere Zeit von nur einer Bezugsperson begleitet werden.“
Oft sind es nur kleine Dinge, wie ein reizarmes Umfeld und Verständnis für Eigenheiten, um einem autistischen Mitarbeiter das Arbeitsleben zu erleichtern. Manchmal braucht es Coaching oder Fördermittel für die Eingliederung. Doch eine Arbeitswelt, die händeringend Fachkräfte sucht, kann und sollte auf das brachliegende Potential autistischer Menschen nicht verzichten.
Wiederholung der Reportage aus dem Jahr 2022
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt - Die Reportage | 27. November 2022 | 08:00 Uhr