"Selbstbestimmt"-ReportageMindestlohn für Werkstätten-Beschäftigte?
Zur Teilhabe gehört es auch, genügend Geld zur Verfügung zu haben. Für Beschäftigte in Deutschland gilt, dass ihnen für ihre Arbeit der sogenannte Mindestlohn gezahlt werden muss. Für Menschen mit Behinderung, die in Werkstätten arbeiten, gibt es den nicht. André Thiel will das nicht hinnehmen und hat dagegen geklagt.
André Thiel arbeitet 35 Stunden in der Woche in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung in Halle. Schreibarbeiten, kleine Montagen, Vertretung im Hofladen – er übernimmt viele Aufgaben. Er hat Bürofachkraft gelernt und danach jahrelang bis zu zehn Bewerbungen pro Monat für den ersten Arbeitsmarkt geschrieben. Jedoch ohne Erfolg.
Ich hab schon reingeschrieben, was möglich ist und was nicht. Aber sobald man den Status "schwerbehindert" hat, wird man von Arbeitgebern pauschal abgelehnt.
André Thiel
Perspektiven: Kaum Aussicht auf Sprung in den ersten Arbeitsmarkt
Nach Jahren der Arbeitslosigkeit, fängt er 2011 in der Werkstatt an zu arbeiten. Er hofft, von dort den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen. Auch dabei sollen Werkstätten helfen. Doch bei dem 39jährigen klappt das nicht. In Deutschland schaffen das überhaupt nur 0,2 bis 0,3 Prozent.
André Thiel ist mit seiner aktuellen Lage unzufrieden: Er lebt selbstständig, in einer eigenen Wohnung. Für 35 Stunden Arbeitszeit pro Woche bekommt er 166 Euro im Monat, das entsprucht einem Stundenlohn von 1,20 Euro. Trotz Vollbeschäftigung ist er daher abhängig von der Grundsicherung. Und alles, was er über den erlaubten Zuverdienst von 158 Euro hinaus bekommt, muss er abgeben.
Das empfinde ich als ungerecht! Man ist durch die Behinderung schon eingeschränkt und dann wird man noch durch den Sozialstaat bevormundet.
André Thiel | Werkstatt-Mitarbeiter
Also klagte er beim Arbeitsgericht Halle auf Zahlung des Mindestlohns durch den Werkstattbetreiber und verlor den Prozess.
In der Urteilsbegründung heißt es: "Damit entsprechen weder die Aufgaben der Werkstatt, noch die des Klägers als Beschäftigten, den Rechten und Pflichten eines Arbeitnehmers in einem Arbeitsverhältnis."
Entlohnung: "So viel Leistungsfähigkeit ist nicht da"
Werkstätten sind Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation und keine Arbeitgeber für Menschen mit Behinderung, obwohl diese dort an eigenen Produkten und Aufträgen anderer Unternehmen arbeiten. Der größte Teil des Erlöses daraus wird ihnen als Lohn ausbezahlt. Andreas Twardy, Sprecher der Werkstattbetreiber erklärt, warum sich daraus kein Mindestlohn ergibt.
Der Durchschnitt der Werkstattbeschäftigten ist nicht in der Lage, so viel zu erwirtschaften, dass man daraus Mindestlohn bezahlen kann. So viel Leistungsfähigkeit ist nicht da. Hier sind wir wieder bei dem, was Werkstatt auch bedeutet: Nämlich nicht, dass jemand nach Leistung bezahlt wird, sondern dass es um Teilhabe geht. Teilhabe bedeutet: Ich kann mich mit meiner Leistung einbringen und werde dafür wert geschätzt.
Andreas Twardy | Sprecher der Werkstatt-Betreiber
System Werkstatt reformbedürftig
Auch die Unterscheidung von "normalen" Angestellten, die als Arbeitnehmer gelten und den Beschäftigten der Werkstätten, die nur ein arbeitnehmerähnliches Arbeitsverhältnis haben, stört André Thiel.
Und er ist bei weitem nicht der Einzige, der Probleme mit dem System Werkstatt hat. Neben anderen Einzelkämpfern diskutiert der Verein Sozialhelden das Thema. Auch die Werkstatträte Sachsen fordern als Interessenvertreter der Betroffenen in den sächsischen Werkstätten Veränderungen:
Keine Frage, das System muss verbessert werden muss. Es ist seit Jahren überholungsbedürftig. Wir sprechen das auch seit Jahren an. Es wurde bisher gehört, überhört, manchmal auch ignoriert. Erst jetzt, durch diese Erhöhung des Grundlohns, ist die Sache ein bisschen mehr in den Vordergrund gerückt.
Thomas Müller | Sprecher der Werkstatträte Sachsens
Den Grundlohn bekommen in der Werkstatt alle in gleicher Höhe. Er wurde seit diesem Jahr schrittweise um fast 50 Prozent angehoben. Das stellt viele Werkstätten vor finanzielle Probleme. Denn der Grundlohn muss von den behinderten Beschäftigten unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit erwirtschaftet werden. Das heißt, die Starken finanzieren die Schwachen, wie Heiko Buschbeck erklärt. Er leitet die Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für Menschen mit Behinderung in Sachsen.
Wollen wir, dass es dieses Solidaritätsprinzip in der Werkstatt gibt? Das müssten wir als Werkstatt-Beschäftigte, aber auch als Gesellschaft miteinander aushandeln.
Heiko Buschbeck | Werkstätten-Landesarbeitsgemeinschaft Sachsen
Von einer Lohnsteigerung hätten er und viele Beschäftigte mit Behinderung nichts, weil sie Grundsicherung bekommen. Und die würde die Erhöhung vom Zuverdienst schlucken. Das Bundesministerium für Arbeit will nun untersuchen, wie die Arbeit in den Werkstätten besser entlohnt werden könnte. Auf das Ergebnis will André Thiel nicht warten, er hat in seiner Werkstatt gekündigt.
Er wird mit etwas weniger Geld auskommen müssen, gewinnt aber Zeit, um sich ehrenamtlich zu engagieren und um seine mittlerweile kranke Mutter zu pflegen.
Der geringe Lohn für Werkstätten-Mitarbeitende steht schon lange in der Kritik. Nun soll eine vom Bund eingesetzte Kommission Vorschläge für ein neues Entgeltsystem erarbeiten. Mehr über die Positionen in der Debatte:
Zum Thema
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt - Das Magazin | 13. September 2020 | 08:00 Uhr