Haris - nachdenklich
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Nah dran | 12.01.2023 Was heißt hier Heimat? Erwachsenwerden in Dresden

15. Januar 2024, 14:45 Uhr

Alle drei Monate müssen Haris und seine Mutter ihren Aufenthaltsstatus verlängern lassen, seit die Mutter vor 23 Jahren nach Deutschland geflohen ist. Je stärker der Frust über die unsichere Situation zunimmt, desto eher besinnt Haris sich auf seine bosnisch-montenegrinischen Wurzeln. Dagegen lebt ihm seine große Schwester mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis das Bild einer emanzipierten deutschen Frau vor.

Haris fühlt sich zerrissen. Dürfen er und seine Mutter in Deutschland bleiben oder müssen sie gehen? Ist Deutschland seine Heimat oder ist es Bosnien, die Heimat seiner Mutter? Fühlt er sich eher als Deutscher oder als Bosnier?

Meine Heimat ist Deutschland, aber auch Bosnien. Also beides. Warum sollte ich sagen, ich bin Deutscher? Das hat nichts damit zu tun, dass ich nicht deutsch bin. Das hat damit zu tun, dass sie mich hier gar nicht wollen.

Haris

Warten auf eine Niederlassungserlaubnis

Immer wieder müssen Haris und seine Mutter Semsada ihre befristete Aufenthaltserlaubnis verlängern lassen. Seit Jahren ist damit immer wieder in Frage gestellt, ob und wie lange sie in Deutschland bleiben dürfen. Semsada kämpft um eine unbefristete Niederlassungserlaubnis, die es ermöglicht, Wohnort und Arbeit frei zu wählen. Alle in der Familie, seine drei Geschwister, sein Vater, können inzwischen unbefristet in Deutschland leben, nur er und seine Mutter nicht. Der Gang zur Ausländerbehörde ist mittlerweile Routine. Alle drei Monate müssen Haris und seine Mutter dort erscheinen. Dann gibt es einen neuen Termin. Immer das gleiche Prozedere.

Flucht vor dem Krieg

1991 ist Semsada mit ihren zwei älteren Kindern vor dem Krieg im damaligen Jugoslawien nach Deutschland geflohen. Seitdem lebt die Familie in Dresden, Semsada bekam noch zwei Kinder. Zu Hause wird ein Mix aus Serbokroatisch und Sächsisch gesprochen, werden bosnische Lieder gesungen.

„Wenn ich hier abgeschoben werde, wenn die mich hier nicht wollen, wenn die versuchen, mein Leben kaputt zu machen, nicht nur meins, von meiner Mutti auch, wenn das so ist, o.k., dann bin ich kein Deutscher.“ Alle drei Monate müssen Haris und seine Mutter ihren Aufenthaltsstatus verlängern lassen, seit die Mutter vor 23 Jahren nach Deutschland geflohen ist. Je stärker der Frust über die unsichere Situation zunimmt, desto eher besinnt Haris sich auf seine bosnisch-montenegrinischen Wurzeln. Seine große Schwester hat eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und lebt ihm das Bild einer emanzipierten deutschen Frau vor. Weinen am Grab - Haris und Semsada
Haris besucht mit seiner Mutter in Bosnien das großelterliche Grab. Bildrechte: MDR/Thurnfilm

Haris große Schwester Adisa ist mit einem Deutschen verheiratet. Sie hat inzwischen eine unbefristete Niederlassungserlaubnis, ist eine emanzipierte Frau und mag ihr Leben in Deutschland. Trotzdem ist sie, wie die Mutter, von den Erlebnissen des Krieges bis heute geprägt. Sie war sieben, als der Krieg auf dem Balkan ihr Leben veränderte.

Suche nach der eigenen Identität

Haris kennt Bosnien nur von den seltenen Besuchen. Er mag die Reisen in die alte Heimat seiner Mutter. Der Eindruck, in Deutschland nicht gewollt zu sein, lässt Bosnien in einem anderen Licht erscheinen. Haris, der nach Zugehörigkeit sucht, saugt in Bosnien neugierig alles auf: Die Begegnungen mit den Menschen, ihre Mentalität, ihre Sprache. Er fühlt sich verbunden mit Land und Leuten: "Fremd ist es mir überhaupt nicht. Ich fühle mich echt gut, hier zu sein", verrät er.

 Haris und Vater vor Bäumen
Haris berät sich mit seinem Vater. Bildrechte: MDR/Thurnfilm

Nun ist Haris 16 Jahre alt, und die Weichen für seine Zukunft werden gestellt. Nach dem Hauptschulabschluss braucht er dringend eine Lehrstelle. Und ist mit der Frage konfrontiert, wer ihn mit einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung einstellt.

Man hat sich so viel hier aufgebaut, hat viele Freunde. Und das wird dann von einem Tag auf dem anderen vielleicht alles weggenommen. Und davor hat man Angst.

Haris

Die ständige Ungewissheit macht ihre Situation schwer erträglich. Zusätzlich sinkt die Chance, als Familie weiter in Deutschland bleiben zu dürfen. Haris ist zunehmend verunsichert und frustriert. Immer mehr besinnt er sich auf seine bosnisch-montenegrinischen Wurzeln.

.„Wenn ich hier abgeschoben werde, wenn die mich hier nicht wollen, wenn die versuchen, mein Leben kaputt zu machen, nicht nur meins, von meiner Mutti auch, wenn das so ist, o.k., dann bin ich kein Deutscher.“ Alle drei Monate müssen Haris und seine Mutter ihren Aufenthaltsstatus verlängern lassen, seit die Mutter vor 23 Jahren nach Deutschland geflohen ist. Je stärker der Frust über die unsichere Situation zunimmt, desto eher besinnt Haris sich auf seine bosnisch-montenegrinischen Wurzeln. Seine große Schwester hat eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und lebt ihm das Bild einer emanzipierten deutschen Frau vor. Yugo-Gang Schriftzug
Neben der Familie spielen auch die Freunde eine wichtige Rolle in Haris' Leben. Zur "Yugo-Gang" gehören Christen, Juden, Moslems, Atheisten. Bildrechte: MDR/Thurnfilm

Wenn ich hier abgeschoben werde, wenn die mich nicht wollen, wenn die versuchen, hier mein Leben kaputt zu machen, nicht nur meins, von meiner Mutti auch - wenn das so ist, dann bin ich kein Deutscher. Na und?

Haris

Reportage aus dem Jahr 2019

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nah dran | 12. Januar 2023 | 22:40 Uhr