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InklusionMehr Rechte für Werkstatt-Beschäftigte in Sachsen?

von Andreas Roth, MDR KULTUR

Stand: 23. Juli 2022, 04:00 Uhr

Er soll vor Armut schützen und mehr Gerechtigkeit bringen: Der Mindestlohn. Doch in Werkstätten für behinderte Menschen gilt er nicht. Auch sonst haben Mitarbeitende dort weniger Rechte, sie dürfen nicht streiken oder sich gewerkschaftlich organisieren. Letztlich steht das ganze Werkstatt-System in der Kritik. Eine generelle Lösung scheint kompliziert, die Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen in Sachsen schlägt jetzt eine Art Vertragswahlrecht als neuen Ansatz vor.

Seit zehn Jahren arbeitet Heike Hinzpeter schon in den Pieschener Werkstätten der Evangelischen Behindertenhilfe Dresden: "Also erst werden die Unterputzdosen gebohrt, dann kommt die Niete und das mache ich mit der Bohrmaschine", erklärt sie und meint: "Das ist auch eine Arbeit, die ich gerne mache."

"Wir sind ja eigentlich alle gleich"

Im letzten Herbst aber war Heike Hinzpeter gar nicht einverstanden. Bei der Wahl zu einem neuen Werkstattrat konnte kaum einer ihrer Kolleginnen und Kollegen eine Stimme abgeben – wegen Corona. Heike Hinzpeter und zehn weitere Beschäftigte fochten – unterstützt von der Werkstattleitung – die Wahl vor einem evangelischen Kirchengericht an. Und gewannen. Für Heike Hinzpeter ein Zeichen: Mitarbeitende mit Behinderungen sollten die gleichen Rechte haben: "Wir sind ja eigentlich alle gleich. Bloß, wir haben eben eine Behinderung und damit können wir super umgehen. Und deswegen steht uns das Recht auch zu, mal etwas zu widersprechen und dann auch Recht zu bekommen."

Weniger Rechte für Mitarbeitende in den Werkstätten

Doch gleichberechtigt mit Arbeitnehmern ohne Behinderung sind sie noch lange nicht. Sie dürfen nicht streiken oder sich gewerkschaftlich organisieren – und Werkstatträte haben weniger Rechte als Betriebsräte. Aktivisten kritisieren das immer lauter. Anja Rothe aus dem Werkstattrat der Evangelischen Behindertenhilfe Dresden wünscht sich: "Also wenn hier Veränderung ist, dann würden wir schon gern mit eingebunden werden."

Verdienst deutlich unter Mindestlohn

Und da ist noch etwas: 220 Euro im Monat verdienen Mitarbeiter in deutschen Werkstätten für behinderte Menschen  im Schnitt – viel weniger als Mindestlohn. Nicht nur die Dresdner Werkstatträtin Anja Rothe findet das ungerecht: "Wir hätten schon gern mehr gerechte Bezahlung dafür, was hier einige leisten in der Werkstatt."

Die Ampel-Koalition will ebenfalls ein transparenteres und gerechteres Entgeltsystem. Doch wie das aussehen könnte – das ist offen. Dazu erklärt Thomas Ertel, der stellvertretende Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen in Sachsen: "Die Menschen, die bei uns sind, sind durch ihre Erwerbsminderung – maximal drei Stunden Leistungsfähigkeit pro Tag – einfach nicht in der Lage, die selbe Leistung zu erbringen. Deshalb ist die Wertschöpfung, die bei uns eindurchschnittlicher Werkstattbeschäftigter erbringt, ungefähr bei 200 Euro." Das ist weit entfernt vom Mindestlohn.

Stichwort: Werkstätten für Menschen mit Behinderungen

Eigentlich sollen die Werkstätten "fit" machen für den ersten Arbeitsmarkt, tatsächlich schaffen derzeit weniger als ein Prozent der Beschäftigten den "Sprung" in den ersten Arbeitsmarkt. Auch deswegen sind die Werkstätten umstritten und nicht konform mit der auch von Deutschland unterzeichneten UN-Behindertenrechtskonvention.

Die ersten Werkstätten für Menschen mit Behinderungen wurden in den 1960er-Jahren gegründet. Seitdem hat sich das Verständnis von Inklusion weiterentwickelt. Kritikerinnen sehen in den WfbM ein Hindernis für Inklusion und verweisen darauf, dass das Werkstätten-System der 2009 auch von Deutschland ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention entgegensteht. So soll nach Artikel 27 jeder die Möglichkeit haben, den Lebensunterhalt durch eine Arbeit zu verdienen, "die frei gewählt oder frei angenommen wird". Die Initiative Jobinklusive stellt dazu fest: "Menschen mit Behinderungen wird der Weg aus der Schule – oder einer Berufsunfähigkeit – in die Behindertenwerkstatt oft alternativlos vorgegeben."

Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) sind kein herkömmlicher Betrieb, sondern eine rehabilitative Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben. So gilt dort auch kein Mindestlohn, sondern ein Entgelt von im Durchschnitt ca. 1,35 Euro die Stunde. Die Beschäftigten können ihre Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten, sie erhalten neben dem Entgelt Leistungen der Grundsicherung oder eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Außerdem werden ihre Renten- und Krankenkassen-Beiträge bezahlt.

Laut Jobinklusive waren
2020 mehr als 300.000 Menschen in Werkstätten beschäftigt. Demnach haben 75,5 Prozent eine sogenannte geistige Behinderung, 20,97 Prozent eine psychischen Behinderung und 3,48 Prozent eine körperliche Behinderung. Entgegen der UN-Empfehlung von 2015, die Werkstätten in der Bundesrepublik schrittweise abzuschaffen, steige die Zahl der Werkstätten, so Jobinklusive: "Im Jahr 2018 gab es 736 Behindertenwerkstätten in Deutschland, mit insgesamt 2.884 Standorten. 2002 waren es noch 668 Werkstätten." Verwiesen wird auf ein neues Phänomen: "In den letzten Jahren steigt der Anteil von Beschäftigten, die eine psychische Behinderung haben und oft vom allgemeinen Arbeitsmarkt kommen." Laut Jobinklusive bezahlt der Staat für einen Werkstattplatz im Durchschnitt 16.592 Euro pro beschäftigter Person.

Landesarbeitsgemeinschaft schlägt Vertragswahlrecht vor

Die Landesarbeitsgemeinschaft hat deshalb einen anderen Vorschlag erarbeitet. Werkstattmitarbeiter sollen künftig wählen können: Zwischen einer Beschäftigung wie bisher, soziale Begleitung und gute Rentenansprüche inklusive – oder einem normalen Arbeitsvertrag:

Das würde bedeuten, dass der Kostenträger dann 80 Prozent der Lohnkosten als Zuschuss an das Unternehmen zahlt und 20 Prozent müssten dann die jeweiligen Werkstattbeschäftigten in den Unternehmen erarbeiten.

Thomas Ertel | Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen in Sachsen

Heike Hinzpeter schaut zu, wie die Stanzmaschine immer gleich gelochte Pappen ausspuckt. Menschen aber sind verschiedenen – und manchmal brauchen sie wie Heike Hinzpeter auch einen ganz besonderen Arbeitsplatz: "Wenn ich nicht mehr kann, dann sage ich eben: 'Ich brauche mal kurz Zeit für mich und die kriege ich. Und das kann ich auf dem ersten Arbeitsmarkt auf keinen Fall machen. Würde es die Werkstatt nicht geben, muss ich ganz krass sagen: Würde es mich auch nicht mehr geben.'"

Heike Hinzpeter hat in ihrer Werkstatt nicht die gleichen Rechte wie in anderen Firmen. Aber hier, sagt sie, fühle sie sich geschützt.

MDRfragt zum Thema Inklusion in Bildung, Arbeit, Freizeit

Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 24. Juli 2022 | 09:15 Uhr