Nah dran: Die schwerste Entscheidung meines Lebens - Paragraph 2018 gestern und heute
Viola Hellmann, Frauenärztin im Ruhestand, sah sich ebenfalls unter Druck - 2006 wurde auf Basis des Paragraphen 219a Anzeige gegen sie erstattet. Bildrechte: Nah dran / MDR FERNSEHEN

"Das war schon heftig!" Wohin der Druck durch Abtreibungsgegner führt

07. März 2023, 15:16 Uhr

Abtreibungsgegner machen hierzulande verstärkt mobil. Auf Basis des Paragrafen 219a gehen sie gegen Ärzte und Ärztinnen vor, die über Schwangerschaftsabbrüche informieren. Wer Abtreibungen vornimmt, gerät erst recht unter Druck. Wohin das führt, erklärt Viola Hellmann, die in Dresden niedergelassene Frauenärztin war.

Rund 100.000 Frauen in Deutschland entscheiden sich jedes Jahr, ihre Schwangerschaft abzubrechen. Nur wenige trauen sich, mit Gesicht und Namen in die Öffentlichkeit zu gehen: Seit sich so genannte Lebensschützer vor Beratungsstellen oder Praxen von Ärzten und Ärztinnen postieren, die Abtreibungen durchführen. Seit mit dem Paragrafen 219a auch das "Werbeverbot" wieder in den Fokus rückte, auf dessen Basis die Gießener Frauenärztin Kristina Hänel Ende 2017 zunächst zu einer Geldstrafe von 6.000 Euro verurteilt worden war - sie hatte auf der Internetseite über die Leistungen ihrer Praxis, darunter auch den Schwangerschaftsabbruch, informiert.

Schon 2006 wurde Viola Hellmann, die bis vor kurzem in Dresden als niedergelassene Frauenärztin arbeitete, von dem militanten Abtreibungsgegner Klaus Günter Annen aus Baden-Württemberg angezeigt, weil sie auf der Webseite ihrer Praxis über den medizinischen Schwangerschaftsabbruch Auskunft gab. Der zuständige Staatsanwalt gab sich damals damit zufrieden, dass sie den Passus von der Webseite nahm. "Das war schon heftig", erzählt sie in der Nah dran-Reportage "Die schwerste Entscheidung meines Lebens".

Die schwerste Entscheidung meines Lebens Positionen zum Thema Abtreibung

Rund 100.000 Frauen in Deutschland entscheiden sich jedes Jahr, ihre Schwangerschaft abzubrechen. Nur wenige trauen sich, in die Öffentlichkeit zu gehen. Wie unterschiedlich die Perspektiven auf das Thema sind ...

Nah dran: Die schwerste Entscheidung meines Lebens - Paragraph 2018 gestern und heute
"Das Recht, ein Kind abtreiben zu lassen, ein Schwangerschaftsabbruch, stand mir zu, es hat auch keiner versucht, mich umzustimmen." Das sagt Margitta Zellmer, Jahrgang 1954. Sie befürchtet damals, mit 25, nach Abschluss des Studiums und gerade Mutter eines Kindes geworden, beruflich den Anschluss zu verlieren. Bildrechte: Nah dran / MDR FERNSEHEN
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"Das Recht, ein Kind abtreiben zu lassen, ein Schwangerschaftsabbruch, stand mir zu, es hat auch keiner versucht, mich umzustimmen." Das sagt Margitta Zellmer, Jahrgang 1954. Sie befürchtet damals, mit 25, nach Abschluss des Studiums und gerade Mutter eines Kindes geworden, beruflich den Anschluss zu verlieren. Bildrechte: Nah dran / MDR FERNSEHEN
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In dieser Lage hilft ihr die eindeutige Gesetzeslage in der DDR, wie sie rückblickend meint. Seit 1972 gilt die so genannte Fristenlösung, danach sind Abbrüche bis zur 12. Schwangerschaftswoche erlaubt, straffrei und kostenlos. Bildrechte: Nah dran / MDR FERNSEHEN
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"Nicht von ungefähr ist schon in der Präambel des (DDR-)Gesetzes zu Unterbrechung der Schwangerschaft formuliert, dass es dazu dienen soll, die Gleichberechtigung der Frau in allen Lebensbereichen herzustellen und dass den Frauen diese Entscheidung  zugebilligt wird." Das sagt Ulrike Busch, deutschlandweit die erste Professorin für Familienplanung. Den bis heute gültigen Kompromiss kritisiert sie: "Der Kompromiss, der gefunden wurde, erinnert nur noch wenig an das freie Entscheidungsrecht von Frauen, insofern, als dass er schon im ersten Satz formuliert: Es handelt sich (bei einer Abtreibung) um einen Straftatbestand und der kann mit Gefängnis oder Geld geahndet werden. Sowohl für Frauen als auch Ärzte." Bildrechte: Nah dran / MDR FERNSEHEN
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Bis zum Ende der 1980er-Jahre wird in der DDR jede dritte Schwangerschaft abgebrochen. Bildrechte: Nah dran / MDR FERNSEHEN
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Einzig die Kirchen kritisieren Rechtslage und Praxis. Der evangelische Christ Wolfgang Böhmer, damals Gynäkologe und später Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, ist 1972 Oberarzt an der Frauenklinik in Görlitz. Er zieht Konsequenzen und geht 1973 in ein christliches Krankenhaus, Bildrechte: Nah dran / MDR FERNSEHEN
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Seit Abtreibungsgegner das im Paragrafen 219a geregelte "Werbeverbot" nutzen, um Anzeigen gegen Ärzte und Ärztinnen zu erstatten, die Abbrüche vornehmen, ist das Thema auf die Tagesordnung zurückgekehrt. Die sozialen Medien sind voll mit Geschichten verzweifelter Frauen, die in der Anonymität Hilfe, Zuspruch und Trost suchen. Bildrechte: Nah dran / MDR FERNSEHEN
Nah dran: Die schwerste Entscheidung meines Lebens - Paragraph 2018 gestern und heute
So verschieden die Frauen, so verschieden sind die Lebensgeschichten, die Kornelia Schmidt jeden Tag in der Schwangerenkonfliktberatung von Donum Vitae in Dresden hört.
Zu ihr kommen Teenager genauso wie Frauen, die Ende 40, Anfang 50 sind und ungewollt schwanger wurden. "Die Schwere der Entscheidung liegt darin, dass es gleichzeitig um das Leben der Frau, um ihren Lebensentwurf, ihre Ziele, ihre Haltung, ihre Kräfte geht - wie auch um die Lebensmöglichkeit des Ungeborenen. Das ist ein hochgradiger Konflikt."
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Nah dran: Die schwerste Entscheidung meines Lebens - Paragraph 2018 gestern und heute
In ihrer mehr als 30-jährigen Arbeit als Gynäkologin hat die Dresdner Frauenärztin Viola Hellmann keine Frau getroffen, die ihre Entscheidung leichtfertig getroffen hätte. Viele, auch gläubige Frauen hätten nie gedacht, einmal vor diese Wahl gestellt zu werden, sagt sie. 2006 wurde Hellmann von dem Abtreibungsgegner Klaus Günter Annen angezeigt, weil sie auf der Webseite ihrer Praxis über den medizinischen Abbruch informierte. Heute ist sie im Ruhestand und fragt sich, ob Versorgung und Standards zu halten sind. Bildrechte: Nah dran / MDR FERNSEHEN
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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nah dran | 04. Oktober 2018 | 22:35 Uhr

"Zunehmender Druck"

Rund zehn Jahre später scheint sich die Lage zuzuspitzen, Abtreibungsgegner machen hierzulande verstärkt mobil und fordern nicht nur, den Paragrafen 219a beizubehalten, sondern die im Paragrafen 218 getroffenen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch zu verschärfen. Ihre Aktionen zeigen offenbar Wirkung. Nach Recherchen des ARD-Politikmagazins "Kontraste" gibt es bundesweit immer weniger Praxen und Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Laut Statistischem Bundesamt ging die Zahl seit 2003 um 40 Prozent zurück. Die Bundesärztekammer sieht in dem zunehmenden Druck "militanter Abtreibungsgegner einen Grund für den Rückgang. Ärzte-Präsident Frank Ulrich Montgomery äußert Verständnis "für jeden Arzt, der unter den herrschenden Bedingungen keine Schwangerschaftsabbrüche vornehmen möchte". Zugleich appelliert er an die Politik sicherzustellen, dass "Ärzte betroffene Frauen nach medizinischen Standards versorgen können, ohne von so genannten Lebensschützern diffamiert und in der Ausübung ihres Berufes zum Teil massiv gestört zu werden".

Also ich hätte es gar nicht glauben können, dass der Schwangerschaftsabbruch mal unter Strafe gestellt wird. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Was ich damals (an dem Kompromiss) positiv fand, war die Beratungsregelung.

Viola Hellmann, Frauenärztin im Ruhestand über die Kompromiss-Regelung nach der Wiedervereinigung

Ausreichende Versorgung und Standards gefährdet?

Die Bundesländer sind gesetzlich verpflichtet, eine ausreichende Versorgung sicherzustellen. Genau diese ausreichende Versorgung und die Standards sieht Viola Hellmann in Gefahr. 1979 begann sie als junge Fachärztin am Dresdner städtischen Krankenhaus. Etwas "fließbandartig" sei ihr die Prozedur bei Abtreibungen dort vorgekommen: "Aufnahme, Eingriff, Entlassungsgespräch". Die Beratung der Frauen sei zu kurz gekommen, räumt sie ein. Die gesetzliche Grundlage war hingegen klar. Abbrüche vorzunehmen, das gehörte zum medizinischen Alltag und der Eingriff somit zur Facharzt-Ausbildung, wie Hellmann erklärt. Nun gingen immer mehr Ärztinnen und Ärzte, die Abbrüche durchführen können, in Rente.

"Wo sollen Kollegen das lernen?"

Für den Nachwuchs sei dieser gynäkologische Eingriff im Medizinstudium maximal ein Randthema. Es mangele an Leitlinien und Austausch, findet sie. Deutlich werde dies auch beim Blick auf die Möglichkeit zu einem medikamentösen Abbruch. Die gebe es seit fast 20 Jahren, durchgesetzt habe sie sich hierzulande nicht. Auch weil es keine Weiterbildungen zum Thema gebe, wie Viola Hellmann erklärt: "Wo sollen Kollegen das lernen?" Dass ein Arzt oder eine Ärztin, die Schwangerschaftsabbrüche anbietet oder vornimmt, per se im Strafrechtskontext steht, und zunehmend unter Druck gerät, sieht sie wie Montgomery als Grund für die drohenden Lücken.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nah dran | 04. Oktober 2018 | 22:35 Uhr