Zwangseinweisungen in die Psychiatrie - Nora Müller 29 min
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Selbstbestimmt-Reportage jetzt in der ARD Mediathek Zwangseinweisung in die Psychiatrie – Fürsorge oder Freiheitsberaubung?

Rund 200.000 Menschen kommen jährlich in die Psychiatrie. Nicht selten lassen Eltern ihre Kinder zwangseinweisen, weil sie um deren Leben bangen. Die Nah dran-Reportage lässt Robert Weimann und Nora Müller ihre Sicht auf Zwangsbehandlungen schildern und zeigt das Dilemma, in dem Angehörige stecken. Vorgestellt wird mit dem Leipziger "Durchblick e.V." auch eine Selbsthilfe-Initiative, die sich für Empathie und Respekt stark macht.

Eines frühen Morgens steht er vor dem Tor und sagt: "Ich habe mein Zelt und meine Sachen schon in ein Wäldchen gebracht." Da weiß Renate Weimanns, ihr Sohn hat die Klinik verlassen. Und sie bemerkt "wieder den Wahn bei ihm", als er erklärt, er "vertrage 40, 50 Grad Minus". Sie muss handeln, denn sein Leben steht auf der Kippe. Was aber tun, um das eigene Kind zu retten, weil es für sich oder andere eine Gefahr darstellt? Vor dieser Frage steht Renate Weimann immer wieder aufs Neue.

Unlösbarer Konflikt

Rund 200.000 Menschen werden jährlich zwangsweise in die Psychiatrie gebracht. Robert Weimann landet dort vielfach. Vor mehr als 20 Jahren diagnostizieren Ärzte bei ihm paranoide Schizophrenie. Die Einnahme von Medikamenten und Therapien bricht der heute Vierzigjährige oft ab. Er verliert seine Arbeit und sein Obdach, unternimmt Suizidversuche. Nach Einschätzung seines Psychiaters Uwe Lanz ist Robert Weimann auf ärztliche Behandlung angewiesen. Die Zwangseinweisung nennt er das "allerletzte Mittel". Renate Weimann sieht oft keine andere Möglichkeit in all den Jahren, in denen sie ihren Sohn nun schon durch die Krankheit begleitet.

Frau
Renate Weimann steht immer wieder vor der Frage, wie helfen? Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Vor der Diagnose fällt Eltern und Lehrern Roberts aggressives Verhalten auf. Er kann sich schlecht konzentrieren, bricht die Schule nach der 10. Klasse ab, seine Ausbildung zum Physiotherapeuten beendet er nicht. Von seiner Krankheit will er nichts wissen. Doch seine wahnhaften Gedanken machen ihm selbst große Angst. In einer Psychose beginnt er, Glastüren zu zerschlagen. Danach berichtet er seiner Mutter, dass er Stimmen höre. Später springt er von einer Brücke und verletzt sich schwer an der Wirbelsäule. Er versucht mehrfach, sich das Leben zu nehmen. Mit 24 kommt Robert das erste Mal in die Psychiatrie – gegen seinen Willen.

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Katrin Müller mit ihrer Tochter Nora Bildrechte: MDR/Schulz & Wendelmann Film GbR

Ständig um das Leben des eigenen Kindes zu fürchten, dieses Gefühl kennt auch Katrin Müller. Ihre Tochter Nora leidet seit über zehn Jahren an Magersucht. Dabei sei sie ein so fröhliches Kind gewesen: "Frech, sehr interessiert an allem, immer in Bewegung, hoch aktiv". In der 9. Klasse fällt ihr auf, dass mit Nora etwas nicht mehr stimmt, sie macht ständig Sit-Ups in der Wohnung, fährt Rad und isst nur noch Nektarinen. Wie freiheitsliebend ihre Tochter immer gewesen ist, auch daran erinnert sich Katrin Müller. Den Zwiespalt zwischen Fürsorge und Freiheitsberaubung, um das Kind vor dem Verhungern zu retten, erlebt sie deswegen – wie Renate Weimann – als unlösbaren Konflikt. Zumal sich die Hoffnung auf Besserung oft zerschlägt.

Lebensrettende, aber auch traumatische Eingriffe

Zwangseinweisungen in die Psychiatrie - Ein Mann sitzt an einem Tisch.
Robert Weimann findet, "Gesundheit darf man niemandem aufzwingen" Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Nachdem Robert Weimann die Klinik letztes Jahr kurz vor Weihnachten verlassen hat, zieht er nicht – wie angekündigt – in den Wald. Er findet Asyl beim Leipziger "Durchblick" e.V., einem Selbsthilfeprojekt für Psychiatriebetroffene, was bedeutet eine warme Mahlzeit, ein bisschen Ruhe, aber auch Rechtshilfe und im Notfall eine Schlafstelle im Haus zu bekommen. Für Robert ist der Ort oft schon eine letzte Zuflucht gewesen. Sogar eine Malgruppe gibt es dort, um Ängste und Alpträume auf Papier oder Leinwand zu bannen. Willem van den Haak vom Durchblick e.V. sagt, es gehe vor allem darum, den Betroffenen mit Verständnis, Hilfsbereitschaft und im Gespräch zu begegnen. Im besten Fall ließe sich so einer Aufnahme in der Psychiatrie vorbeugen. Robert Weimann landet kurz nach Weihnachten dann doch wieder dort. Der Drogenkonsum hat seine Wahnvorstellungen verschlimmert; beispielsweise glaubt er, Rohrreiniger trinken zu müssen, um "seinen Säure-Basen-Haushalt zu korrigieren". Als Chance für Therapie und Heilung kann er die Zwangseinweisung trotzdem nur schwer akzeptieren. Er hat erlebt, wie es ist, "über ein halbes Jahr auf engstem Raum und unter schweren Medikamenten eingepfercht zu sein".

Die Medikamente sind wie eine Zwangsjacke, die einem übergestülpt wird.

Robert Weimann
Gurte
Eine Fixierung, die länger als 30 Minuten dauert, muss richterlich genehmigt werden. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Körperliche Fixierung gilt als Ultima ratio, um das Überleben eines Patienten zu sichern. Nora Müller hat sie erlebt, ihr wurde auf diesem Weg ein zentralvenöser Zugang gelegt, um ihr eine Nährlösung zu verabreichen. Von den erzwungenen Klinikaufenthalten und Therapien sagt die heute 26-jährige, sie seien "lebensrettend" gewesen, aber auch ein "traumatischer Eingriff".

Also ich war ständig getrieben ... aus Angst, dass es bald vorbei ist, wenn ich so weitermache und Angst, dass ich mich halt nicht auflösen kann. Ich war kurz vor dem Tod und in so einem Rausch drin. (...) Deshalb durfte ich auch im Bett liegend nicht malen. Weil ich auch das Zeichnen dazu verwenden würde Kalorien zu verbrennen.

Nora Müller

Als weiteres Zwangsmittel gilt die Medikamentengabe wider Willen. Lanz zufolge erfolgt sie unter Aufsicht von mehreren Ärzten und Pflegepersonal. Auch er bestreitet nicht den unauflösbaren Konflikt, den es bedeute, Gewalt anzuwenden, um zu helfen. Beantragt werde sie aber nur – so Lanz – wenn es eine Aussicht auf einen therapeutischen Erfolg noch gibt. Robert Weimann verweist auf die Nebenwirkungen von Psychopharmaka, die bei ihm wiederum Ängste auslösten. Er findet: "Gesundheit darf man niemandem aufzwingen. Punkt!" Lanz führt ins Feld, dass die Betroffenen in der Ausnahmesituation, in der sie steckten, gar nicht zu einer freien Willensentscheidung in der Lage seien. Ihnen zuzusehen – etwa wie sie Rohrreiniger trinken – wäre in diesem Sinne unterlassene Hilfeleistung.

Gesundheit darf man niemandem aufzwingen. Punkt!

Robert Weimann

Was kommt nach dem Zwang? – Alternativen zur Psychiatrie

Der Widerstreit zwischen Fürsorgepflicht und dem Recht auf Autonomie können Angehörige wie Katrin Müller nur schwer ertragen. Ihr wird gesagt, dass sie notfalls zugucken müsse, wie ihre Tochter sich zu Tode hungere. Denn als Volljährige entscheide Nora für sich selbst. Ihre Mutter setzt sich mit aller Kraft für eine Behandlung ein. Irgendwann aber gilt sie als beendet. Etwa wenn nach einer Sechs-Wochen-Frist die Einweisung richterlich geprüft werde. Renate Weimann berichtet, dass der Richter die Maßnahme dann meist nicht verlängere, auch deshalb weil die Betroffenen unter Medikamenteneinfluss wieder "so normal wirkten, dass er den Eindruck gewinne: 'Na, der weiß, was er will.'" Die Freiheit sei in Deutschland ein hohes Gut, sagt Weimann, sie bedeute aber auch, gegebenenfalls im Wald zu erfrieren.

Renate Weimann wünschte sich, dass es Möglichkeiten gäbe, den zermürbenden Kreislauf zu durchbrechen, dass sich Ärzte, Therapeuten und Sozialarbeiter nicht auf ihre jeweiligen Zuständigkeiten zurückzögen, sondern eine ganzheitliche Behandlung, die individuell angepasst nach der Notversorgung weitergehe. Auch aus Katrin Müllers Sicht sind stationäre Hilfe und ambulante Unterstützung zu wenig vernetzt. Sie vermisst Nachsorge, wenn es um Arbeitsplatz- oder Wohnungsfragen und eben die akulte Seelennot geht. Selbsthilfeinitiativen könnten aus Sicht von Willem van den Haak vom Durchblick e.V. eine Brücke zurück ins Leben sein, in dem sie Menschen in psychischen Krisen empathisch und respektvoll aufnehmen:

Wenn ich in einer akuten Krise bin, geht es um die Frage: Wie werde ich empfangen? (...) Ein Mensch muss spüren, da ist jemand, der sagt nicht: 'Der ist verrückt, der muss weg, der muss gespritzt werden, den müssen wir fixieren.' Wenn ich mit Gewalt komme, dann wird der andere auch gewalttätig. Das ist meine Überzeugung.

Willem van den Haak, Durchblick e.V.

Zwangseinweisung vs. Recht auf Selbstbestimmung * Fast 200.000 Menschen landen jährlich gegen ihren Willen in der Psychiatrie, manche für Tage, andere für Monate oder Jahre.

*Psychische Störungen, Drogensucht, aber auch Alterserkrankungen wie Demenz lassen die Zahl der Fälle steigen.

*Voraussetzung ist, dass durch den Patienten eine erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung droht.

*Ein Richter muss die Einweisung binnen 24 Stunden bestätigen. Grundlage ist ein medizinisches Gutachten.

*Im Notfall können auch Ärzte oder Polizisten eine Zwangseinweisung veranlassen.

*Ein Einweisungsbeschluss wird in den meisten Bundesländern nach sechs Wochen durch ein Gericht überprüft.


Zwangsmittel: Körperliche Fixierung und Medikamentengabe wider Willen *Eine Fixierung, die länger als 30 Minuten dauert, muss richterlich genehmigt werden.

* Das heißt, ein Richter muss informiert werden und binnen 30 Minuten reagieren, was praktisch schwierig umsetzbar ist.

*Über den gesamten Zeitraum muss medizinisches Personal anwesend sein.

*Patienten müssen so weit möglich vorher angehört werden. Sie können bei Gericht Einspruch einlegen. So die Theorie.

*Am Ende muss der Richter entscheiden, was schwerer wiegt: Das Recht auf persönliche Freiheit oder die Pflicht zur staatlichen Fürsorge. Stützen muss er sich auf die Expertise der Ärzte.

*Weiteres Zwangsmittel im Falle der Selbst- und Fremdgefährdung ist die Medikamentengabe wider Willen.

Zwangseinweisungen in die Psychiatrie - Durchblick e.V.
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Durchblick e.V. Die Selbsthilfeorganisation versteht sich als Beratungs- und Anlaufstelle für psychisch Kranke und ihre Angehörigen. Hier bekommen sie eine erste Hilfe in Ausnahme-Situationen und Unterstützung nach stationären Aufenthalten. Der "Durchblick" will eine Brücke zurück ins normale Leben bauen.

Wiederholung der Reportage aus dem Jahr 2019

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Nah dran - Die Reportage | 26. Oktober 2023 | 22:40 Uhr