Teasergrafik Altpapier vom 15. Juni 2021: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 15. Juni 2021 Trumpscher Wahlkampf

15. Juni 2021, 18:30 Uhr

Jüdische Künstler:innen und Wissenschaftler:innen greifen den Springer-Verlag an, weil dieser den "Antisemitismus-Begriff missbraucht, also entwertet". Grund für die Kritik ist eine Kampagne gegen die Schriftstellerin und Kolumnistin Carolin Emcke. Ein Altpapier von René Martens.

Absichtliches Missverstehen

Carolin Emcke hat am Freitag auf dem Parteitag der Grünen eine Rede gehalten, in der sie analysiert hat, wie "radikale Wissenschaftsfeindlichkeit, die zynische Ausbeutung sozialer Unsicherheit, die populistische Mobilisierung und die Bereitschaft zu Ressentiment und Gewalt" dazu führen, "dass Gruppen wie z.B. Feministinnen, Juden, Kosmopoliten, Virolog:innen angegriffen und zu Sündenböcken gemacht werden".

So fassen es jüdische Künstler:innen und Wissenschaftler:innen in einer Stellungnahme zusammen, die die Zeitschrift Merkur veröffentlicht hat. Warum betonen Micha Brumlik, Max Czollek, Igor Levit Eva Menasse und andere Unterzeichnende das? Weil einige Parallelweltenbauer aus Publizistik und Politik das größtmögliche Gegenteil behauptet und Emcke die Verharmlosung von Antisemitismus vorgeworfen haben (was eher noch eine freundliche Zusammenfassung ist). An dem Desinformationsspektakel war auch der gestern in diesem Zusammenhang hier erwähnte Holtzbrinck-Hooligan Harald Martenstein beteiligt, der kurz zuvor bereits in einem Interview mit einer bekannten rechtsradikalen Wochenzeitung bemerkenswerte Duftmarken hinterlassen hatte.

Levit, Menasse und Co. schreiben nun:

"Auf die gemeinsame kulturelle Textur und politische Form gruppenfeindlicher Ressentiments hinzuweisen bedeutet mitnichten, den Antisemitismus zu verharmlosen oder alles irgendwie gleich, gar beliebig zu behandeln. Im Gegenteil. Solche Betrachtungen klären darüber auf, wie sich Exklusionsdynamiken verflechten (…)"

Der Hauptadressat ihrer Kritik ist ein Unternehmen, dessen Vorstandsvorsitzender immer noch Vorsitzender des Bundesverbandes Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) ist:

"Es ist bei weitem nicht das erste (und sicher nicht das letzte) Mal, dass sich Medien (insbesondere des Springer-Verlags) dieser Methode bedienen: Zitate werden aus dem Zusammenhang gerissen und in neue Kontexte gesetzt, die Deutungshoheit über den Antisemitismus wird an sich gerissen. Damit wird der Antisemitismus-Begriff instrumentalisiert, missbraucht, also entwertet. Dies zeigt einmal mehr, wie hohl die beständig wiederholte Behauptung ist, dass sich die Medien des Springer-Konzerns konsequent gegen Antisemitismus einsetzen würden. Tatsächlich nämlich dient das vermeintliche Eintreten gegen Antisemitismus als Alibi für ressentiment-schürende, teilweise regelrecht hetzende Berichterstattung gegen Muslim:innen, Geflüchtete – oder, wie in diesem Fall, gegen Menschen, die politisch nicht rechts stehen. Das Leben von Jüdinnen*Juden – unser Leben – wird dabei lediglich als Munition in einem herbeigeschriebenen Kulturkampf genutzt. So wird ein Klima der Gewalt und des Misstrauens erzeugt. Das absichtliche (und wiederholte) Missverstehen, die Verzerrung und Verdrehung von Tatsachen und die Lüge als mediale Methoden untergraben jeden sachlichen Diskurs und gefährden die Demokratie in diesem Land."

Wie umgehen mit Springer-Trollen?

Samira El Ouassil argumentiert in ihrer "Wochenschau"-Kolumne bei Übermedien in eine ähnliche Richtung wie die Unterzeichnenden der Stellungnahme:

"Schaut man sich die Rede von Emcke an und hört selbst, was sie sagt, dann kann man wahrnehmen, dass sie mit ihrer Aussage Antisemitismus nicht instrumentalisiert, sondern, genau andersherum, vor strukturellem Antisemitismus in Desinformationskampagnen warnt."

Dass nun genau jene in den Medien und der Politik, deren Geschäftsmodell im wesentlichen aus Desinformationskampagnen besteht, Emcke angreifen, ist natürlich nicht unbedingt eine Überraschung. El Ouassil weist noch auf ein wichtiges Detail hin: 

"Interessanterweise wurden in den Verschriftlichungen der Rede – soweit ich das sehen konnte – kaum Anführungszeichen verwendet, die sie bei ihrem Vortrag deutlich gestisch markierte (…) Sie sagt: 'Die Juden und Kosmopoliten' und 'Die Feministinnen' – da wir wissen, dass es 'DIE Juden' nicht gibt, sondern einfach Juden im Allgemeinen und 'DIE Feministinnen' ebenfalls nicht (als seien das homogene monolithische Gruppen), ist auch hier nachvollziehbar, dass sie die undifferenzierte, enthumanisierende, verallgemeinernde Weltsicht von Personen imitiert, vor der sie eben zu warnen versucht."

Im Folgenden benennt El Ouassil ein Problem, vor dem seriöse Journalisten oft stehen: Ist es angemessen, so viel Zeit dafür aufzuwenden, um zu zeigen, dass "Quatschbehauptungen" eben genau das sind. Klar, das kommt immer auf den Einzelfall an. Im aktuellen Fall hat El Ouassil jedenfalls beobachtet:

"Die halbe Journalisten-Blase bei Twitter: beschäftigt mit der Text-Exegese einer Rede, die gar keinen Raum für Missverständnisse bot, alle diese Ressourcen und Aufmerksamkeit gebunden von den Troll-Postings der Axel-Springer-Medien und der Multiplikation durch konservative Politiker. Das ist klassische Diskurszerstörung, wie wir sie eigentlich eher aus dem trumpschen Wahlkampf kennen."

Pessimistische Wahlkampfperspektiven

An einer anderen Aktion im Bereich der "klassischen Diskurszerstörung" bzw. des "trumpschen Wahlkampf" beteiligten sich am Freitag die Anzeigenabteilungen von FAZ, Süddeutsche, Tagesspiegel und Handelsblatt. Sie genehmigten die Veröffentlichung einer Anzeige der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, in der der offenbar immer noch funktionierende Gag, die Grünen wären eine "Verbotspartei", wieder aufgewärmt wurde. 

"Lobbyisten erfinden angebliche geplante Verbote",

lautete die Zusammenfassung der dpa-Faktenchecker am Montag dazu.

Eine anderes ungutes Phänomen im Themenkontext Wahlkampf und Medien benennt Nikolaus Blome in seiner Spiegel-Kolumne:

"Zugegeben: Wenn sich jemand mit meiner Sicht auf die politischen Dinge bemüßigt fühlt, die Grünen aufzurichten, sagt das etwas über deren aktuellen Zustand. Doch nicht Mitleid treibt mich an, es hat mich in der vergangenen Woche einfach geärgert, wie radikal die grünen Wahlaussichten heruntergepreist wurden. Oder mit welch eitlem Selbstgewissheitismus Kreise rechts der Mitte davon ausgehen, dass die Wahl gelaufen sei, weil mitunter mehr als fünf Prozentpunkte zwischen Union und Grünen liegen und Annalena Baerbock in der (fiktiven) Direktwahlfrage schwer gestutzt wurde. Jaja, stimmt schon, die Grünen und Annalena Baerbock in Person wurden vor Kurzem noch arg hochgejazzt, aber das macht den aktuellen Antihype ja nicht besser. Hype bleibt Hype bleibt blöd – ob er nun hochjubelt oder runtertrommelt."

Auch Konservative finden also mal ein Korn. Einen noch wichtigeren Punkt macht Blome an anderer Stelle:

"Den aktuellen Abgesängen liegt jedenfalls ein Denkfehler zugrunde: dass die stärkste Fraktion im Bundestag den Kanzler stellen darf, weil sie ihn (fast) immer gestellt hat."

Man kann - so viel Pessimismus ist wohl angemessen - davon ausgehen, dass deutsche Politikjournalist:innen diesen "Denkfehler" in den kommenden Wahlkampfwochen täglich noch mehrmals performen werden.


Altpapierkorb ("WTF happened to Ken Jebsen?", Werberelevante Zielgruppe, Wirecard, Wall Street Journal)

+++ Ungewöhnlich viele und auch teilweise ungewöhnlich detaillierte Rezensionen sind seit dem Wochenende zu dem unter anderem beim NDR und RBB zu hörenden Podcast "Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen?" erschienen - bei Zeit Online, Übermedien, im Tagesspiegel, Andreas Speit in der taz vom Montag. "'Cui Bono' hat das Potenzial, einer der deutschsprachigen Podcasts des Jahres zu werden", schreibt Sandro Schroeder bei Übermedien. Daniel Hornuff lobt bei Zeit Online "für deutsche Podcast-Formate außergewöhnlich aufwendige Montageverfahren". Im zweiten Teil der sechsteiligen Serie wird unter anderem daran erinnert, dass es nicht zuletzt an Henryk M. Broder lag, dass Jebsen vor rund zehn Jahren Jebsen den RBB verlassen musste. Dass eine heutige "Schlüsselfigur der 'Querdenker'-Szene (Der Spiegel aus aktuellem Anlass über Jebsen) einst zu Fall gebracht wurde von einer Person, die heute bei Querdenker-Kundgebungen mitmischt - das ist natürlich eine hübsche Ironie.

+++ Die Sinnhaftigkeit der Erfindung der "werberelevanten Zielgruppe" zwischen 14 und 49 zweifeln Dirk Metz und Hans-Jürgen Heck im Aufmachertext der FAZ-Medienseite an (75 Cent bei Blendle): "Versucht man herauszufinden, wer (diese) (…) Zielgruppe (…) festgelegt und zum Maß aller Dinge gemacht hat, kommt Erstaunliches zutage. So gab der ehemalige RTL-Chef Helmut Thoma in einem Spiegel-Interview bereits 2008 ganz freimütig zu, die Gruppe schlicht erfunden zu haben ('Die Grenzziehung war reine Willkür'). Er hatte die damalige RTL-Kerngruppe der Vierzehn- bis Neunundvierzigjährigen der Werbewirtschaft ans Herz gelegt. Es sei für ihn faszinierend, so Thoma, dass alle darauf reinfielen und selbst ARD und ZDF dieser Schimäre hinterhergelaufen seien." Das zitierte Interview mit Thoma steht hier.

+++ "Wichtige, wenn nicht gar die wichtigste Arbeit findet im Büro statt", schreibt Olaf Storbeck, der Frankfurt-Korrespondent der britischen Financial Times, in einem Beitrag für Übermedien. Anlass: Ferdinand von Schirach hat in einer Rede beim Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus kürzlich ungefähr das Gegenteil behauptet bzw. "einen in Teilen falschen Mythos bedient" (Storbeck). Der FT-Mann untermauert seine These mit einem Einblick in die Recherchen seiner Zeitung (und vor allem des Redakteurs Dan Crum) zum Wirecard-Skandal: "Zu Fall gebracht wurde die deutsche Möchtegern-Erfolgsgeschichte in einer fensterlosen Kammer direkt am Südufer der Themse in London: One Southwark Bridge, der damalige Redaktionssitz der Financial Times. Drei Monate lang hat sich Dan (…) dorthin verzogen. Er hat an einem Laptop gearbeitet, der nicht ans Internet angeschlossen war und jeden Abend in den Tresor der Redaktion gelegt wurde. Er hat die Datenmengen durchgearbeitet, die der Whistleblower übergeben hatte und die dieser selbst gar nicht bis ins Detail kannte: interne Emails, Chatprotokolle und Exceltabellen (…) Darauf folgte eine journalistische Fleißaufgabe, die eine Strafarbeit für jeden Praktikanten gewesen wäre: Per Telefon und E-Mail stieg Dan über 30 Unternehmen hinterher, die auf einer Kundenliste standen und die auf dem Papier für Millionen-Umsätze verantwortlich waren. Er stellte fest: Die meisten dieser Unternehmen gab es entweder nicht, oder sie hatten nie etwas von Wirecard gehört."

+++ Schließlich noch Neues aus der Welt seltsamer verlegerischer Monetarisierungsideen: Das Wall Street Journal beabsichtigt, von Redakteur*innen des Hauses Geld zu verlangen, wenn diese Texte, die sie selbst für ihre Zeitung geschrieben haben, in einem Buch verwenden wollen. Darüber berichtet das Nieman Lab.

Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.

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