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Digital leben | Folge 27Crashkurs "Schule von Zuhause"

20. März 2020, 10:04 Uhr

Die Schulen sind geschlossen und Eltern sind plötzlich "Aushilfs-Lehrer". Bildungspolitiker und Experten drängen zu digitalen Werkzeugen. Aber: Richtig gut ist das nicht, sagt Ines Bieler, Lehrerausbilderin bei "Lehramt@digital" an der Uni Halle. Sie warnt davor, unüberlegt auf digitale Hilfe zu setzen.

von Marcel Roth, MDR SACHSEN-ANHALT

Ines Bieler muss in diesen Tagen immer tief einatmen, bevor sie auf Fragen antwortet. Fragen danach, ob sich Schule und Lernen nicht einfach digital organisieren lassen. Denn eigentlich ist Ines Bieler ein Riesen-Fan von digitalen Tools für Schule und das Lernen. Sie arbeitet seit zwei Jahren im Projekt "Lehramt@digital" am Zentrum für Lehrer*innenbildung der Uni Halle, war davor Gymnasiallehrerin für Deutsch, Englisch und Geschichte.

Aber zur Zeit – eine Woche nach den Schulschließung wegen des Corona-Virus' – bremst Ines Bieler den digitalen Eifer: "Sich jetzt nur auf digitale Werkzeuge zu konzentrieren, ist der falsche Weg." Und mehr noch: "Den analogen Stundenplan jetzt ins Digitale zu übertragen: Das wird scheitern, da bin ich mir sicher", sagt Bieler im Podcast "Digital leben" bei MDR SACHSEN-ANHALT. Als Lehrerin war sie den Umgang mit Schülern und Eltern gewohnt, als Wissenschaftlerin will sie das Bildungssystem mithilfe neuer Technologien verbessern. Das ließe sich jetzt mit den Schulschließungen einüben. Eigentlich.

Aber von einen Tag auf den anderen umzuschalten, das funktioniere nicht. "Da rächen sich die Versäumnisse der letzten Jahre. Denn hinter digitaler Bildung steckt viel mehr." Eine neue Art, Schule zu denken. Bieler ist eine Verfechterin des "flipped classrooms". Dessen vereinfacht ausgedrückter Grundansatz: Wissensvermittlung findet Zuhause im eigenen Tempo statt – Hausaufgaben und Einüben mit Unterstützung der Lehrer in der Schule.

Der umgedrehte Unterricht

Bislang vermittelt ein Lehrer das Wissen im Unterricht. Außerhalb der Schule, Zuhause bei den Hausaufgaben, wird dieses Wissen dann mit Übungen unterlegt. Für den "umgedrehten Unterricht" erstellen die Lehrer zum Beispiel kurze Lehr-Videos, die sich die Schüler Zuhause beliebig oft anschauen können. Schüler lernen so selbstbestimmt und im eigenen Tempo. Im Unterricht in der Schule kommt dann kein neuer Stoff hinzu, sondern es werden Fragen geklärt, geübt und diskutiert. Der Lehrer wird so zum Moderator, der nie genau weiß, was ihn im Unterricht erwartet und flexibel reagieren muss. Zum Beispiel auch, indem er zusammen mit den Schülern eine Internetrecherche macht.

Nur: Der umgedrehte Unterricht lässt sich nicht von jetzt auf gleich umsetzen. "Denn man muss die nutzbaren und sinnvollen Angebote dazu auch kennen. Das ist ja für jedes Fach, für jede Klassenstufe und für jeden Lehrer individuell." Außerdem könne man nicht davon ausgehen, dass jedes Elternhaus und jeder Lehrer eine ausreichende Internetverbindung und das richtige Gerät hat. Deswegen kann Ines Bieler es absolut nicht verstehen, wenn Schulen ihren analogen Stundenplan jetzt einfach ins Digitale übertragen: "Kollegen erzählen, dass es Schulen gibt, bei denen man sich morgens zu einer bestimmten Zeit online melden muss, um die Aufgaben abzuholen. Die sollen dann bis zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder abgegeben werden. Das geht nicht!"

"Die Schulklingel bestimmt nicht mehr den Rhythmus"

Und auch das Herumschicken von Arbeitsblättern sei nicht optimal: "Ich kann das natürlich verstehen, weil gerade niemand etwas anderes aus dem Ärmel schütteln kann. Aber ich glaube auch, dass Lehrer nicht nur dazu da sind, Arbeitsblätter zu kontrollieren."

Was also tun, wenn das Corona-Virus den Ort Schule verschwinden lässt? Ohne konkrete digitale Werkzeuge zu nennen, will Ines Bieler, dass sich Eltern und Lehrer zunächst Gedanken machen. Ihre wichtigsten Anregungen:

- Eine Tagesstruktur ist wichtig. Aber jede Familie muss ihren eigenen Rhythmus für die Zeit des Lernens und Übens finden.

- Schüler können mehr eigenständig lernen, ihnen sollte Gruppenarbeit mit Mitschülern ermöglicht werden. Später könnten sie ihre Ergebnisse präsentieren und so auch den Lernerfolg mit kontrollieren helfen.

- Lehrer können Videosprechstunden mit ganz kleinen Schülergruppen organisieren, in denen sie konkrete Fragen beantworten.

- Lehrer sollten Schüler motivieren, in dieser Zeit ein Tagebuch zu schreiben.

- Fachlehrer sollten Schüler ermutigen, sich mit einem Thema zu befassen, dass die Schüler wirklich interessiert. Darin können sie sich vertiefen und eine Präsentation vorbereiten.

Eines ist Ines Bieler ganz besonders wichtig: Eltern sind keine Lehrer. "Sie können nicht die Lehrerrolle übernehmen und die Nasen der Kinder in Bücher drücken." Das sei nicht ihre Aufgabe in der Familie und der Gesellschaft. Deshalb müssten sich Lehrer jetzt auch ihrer anderen Aufgabe bewusst werden: Die des Erziehers. "Wir dürfen nicht vergessen, dass die Kinder auch verunsichert sind. Wir können sie nicht einfach mit Arbeitsblättern vollschütten." Lehrer sollten Verständnis zeigen und Halt geben. "Der Ort Schule ist gerade verschwunden." Es brauche jetzt Freiräume zum Lernen und auch zum Erholen, sagt Bieler.

Ines Bieler – lange selber Lehrerin – gibt an der Martin-Luther-Universität Halle Tipps für digitales Lernen weiter, die sie von Workshops mitbringt. Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Trotzdem sieht sie die Krise als Chance: Denn mit digitalen Lern- und Übungsmethoden müssten sich derzeit auch Eltern und Lehrer auseinandersetzen, die sich damit nicht auskennen oder die es bislang abgelehnt haben. Die Krise als Chance. "Vielleicht können sich Eltern oder Lehrer jetzt einen Überblick über digitale Tools verschaffen." Dann könnte das System Schule ein ganz anderes werden: mit selbstbestimmtem Lernen, lebendigem Austausch, offenen Strukturen und zufriedeneren Schülern, Lehrern und Eltern." Aber sind dabei nicht die starren Lehrpläne ein Problem? "Ach, die Lehrpläne...", sagt Ines Bieler und seufzt.

Bildrechte: MDR/Viktoria Schackow

Über Marcel RothMarcel Roth arbeitet seit 2008 als Redakteur und Reporter bei "MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir". Nach seinem Abitur hat der gebürtige Magdeburger Zivildienst im Behindertenwohnheim gemacht, in Bochum studiert, in England unterrichtet und in München die Deutsche Journalistenschule absolviert. Anschließend arbeitete er für den Westdeutschen Rundfunk in Köln. Bei MDR SACHSEN-ANHALT berichtet er über Sprachassistenten und Virtual Reality, über Künstliche Intelligenz, Breitbandausbau, Fake News und IT-Angriffe. Außerdem ist er Gastgeber des MDR-SACHSEN-ANHALT-Podcasts "Digital leben".

Quelle: MDR/jr

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