Erfahrungsbericht "Warum ich Poetryslam scheiße finde" – klare Worte von Sachsen-Anhalts Landesmeister

24. September 2019, 15:59 Uhr

Leonard Schubert ist der neue Landesmeister im Poetryslam. Die besten neun Poeten Sachsen-Anhalts haben sich am 21. September in Halle um den Titel duelliert. Leonard berichtet vom Ablauf des Abends, was ihn an Poetryslam reizt, und wie es sich anfühlt, in verrauchten Räumen hunderten Menschen seine Gedanken entgegenzuschreien.

Leonard Schubert
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Ich bin Landesmeister im Poetryslam geworden und immer noch überrascht. Vor allem, weil ich mit einem Text angetreten bin, der heißt "Warum ich Poetryslam scheiße finde". Ich muss zugeben, dass das nicht stimmt. Aber vielleicht fange ich von vorne an.

Das erste Mal Slam

Ich heiße Leonard und bin Praktikant beim MDR SACHSEN-ANHALT. Und ich bin Poetryslamer. Das hat angefangen im Oktober 2016. Aufgewachsen in einer Kleinstadt in Nordrheinwestfalen, bin ich mit Poetryslam erst während meines Studiums in Berührung gekommen. Viele hatten davon erzählt, geschwärmt, abgekotzt, und ich stand auf einmal in einem verrauchten Technoschuppen in Leipzig, und da war er nun, dieser Slam:

Zehn schwitzende, meist Bier trinkende und ansonsten völlig verschiedene Menschen, die sich nach einer kurzen Anmoderation aus dem Publikum schälten, hinter das Mikrofon stellten, und dem Publikum sechs Minuten selbstgeschriebenen Text auf die Ohren ballerten. Ich war sofort begeistert.

Es war Wahnsinn, wer da alles auf die Bühne kam: Hünen mit langen Bärten, die mit belegten Stimmen über ihre Exfreundin und Einhornglitzer erzählten. Entschlossene Frauen, deren Stimmen die rauchige Luft durchschnitten und die bitterböse satirische Abhandlungen zur Politik zum Besten gaben. Dadaistischer-Kunstrap, tiefste philosophische Gedanken, absoluter Nonsense, es war alles dabei. Manches war grandios, anderes okay, anderes gar nicht. Im Publikum wechselten Lachtränen mit Tränen der Rührung, mit Schulterzucken, mit angeregten Diskussionen. Und es war klar: Hier geht etwas! Ganz ehrlich, ganz direkt, für jeden die gleichen Voraussetzungen, und ab ging's. Und mir war klar: Das probiere ich auch mal, irgendwann.

Was ist eigentlich Poetryslam?

Poetryslam ist eine Art "Dichterwettstreit", bei dem Poetinnen dem Publikum selbstgeschriebene Texte vortragen. Inhalt und Genre sind frei. Das Publikum bestimmt über Wertungstafeln oder Applaus den Sieger.

Die Regeln

  • Nur selbstgeschriebene Texte
  • Es gibt ein Zeitlimit (meist ca. 6 Minuten)
  • Keine Requisiten oder Verkleidungen
  • Gesang höchstens anteilig: Das gesprochene Wort zählt

Die Landesmeisterschaft

Sechs Jahre später stehe ich auf dieser Bühne, vor hunderten Menschen, in Halle, in den Frankeschen Stiftungen. Vor mir ein Mikro. Ich schwitze ein bisschen, mein Herz klopft, und ich sage "Warum ich Poetryslam scheiße finde." Es sind Landesmeisterschaften. Die neun besten Poetinnen und Poeten des Landes haben sich qualifiziert, in Stadtmeisterschaften, bei regionalen Auftritten, auf Stadtfesten.

Der Halternativ-Verein hat einiges aufgefahren: Angeheizt vom musikalischen Feature Felix Laros, Moderator Gerard Schüft und dem fantastischen Slamteam DaM & daM baute sich die Energie im Saal kontinuierlich auf. Das Publikum ist voll da, trotz Getränkeverbot – Denkmalschutz.

Der Abend war genau, wie ich Slam liebe: Bunt, vielfältig, anders: Ein Text über den Umgang mit Depression muss sich behaupten gegen die Erzählung eines esoterisch ausgeschmückten Versuchs, sich im Wald zu erleichtern, einen humoristisch-ernsten Text über Alltagsrassismus und einen philosophischen Text über den Sinn des Lebens.

Das Publikum pusht

Die Slamer geben ihr Bestes, und sie sind gut. Das Publikum schwingt die Wertungstafeln. Egal, welche Wertung die Texte bekommen, es ist deutlich zu spüren, wie jeder Text etwas mit dem Publikum macht, wie kollektiv zugehört wird, Worten, die extra für diese Menschen geschrieben wurden. Ich werde mitgerissen. Lauter Applaus. Die Energie im Saal wächst. Ein gespanntes Prickeln steigt in mir auf.

Fabian Bublitz sichert sich in der ersten Gruppe den Platz im Finale mit einem "Rap-Battle der Studienfächer". MC-Chemie bringt das Publikum extrem in Fahrt, die erste Zehner-Wertung des Abends purzelt. Dann beginnt die zweite Gruppe.

Ich bin als Vorletzter dran, sitze auf dem Stuhl, lausche den Texten, dem Johlen des Publikums. Mitgerissen von der Begeisterung und immer nervöser. Dann werde ich aufgerufen. Applaus ertönt, meine Füße laufen von alleine. Ich komme beim Mikro an, entscheide mich in letzter Sekunde für einen Text. Dann wird es leise. Ich bin aufgeregt. Ziehe das Textblatt aus der Hosentasche. Gucke das Publikum an. Und es geht los.

Hallo, ich bin Leonard. Ich habe hier einen Text mitgebracht, extra für die Landesmeisterschaften, weil ich finde, dass er thematisch sehr gut passt: Warum ich Poetryslam scheiße finde!

Oft entscheidet sich in den ersten Sekunden, ob man eine Verbindung zum Publikum herstellen kann, oder nicht, ob die Witze als Witze rüberkommen, oder ob sich jemand beleidigt fühlt. Mein Text ist dreckig, rotzig, albern. Er überspitzt gängige Stilmittel und Textformate im Poetryslam, spielt mit typischen Sprüchen und Umständen. Wohlwollend und liebevoll nimmt er alle Slamer, die Moderation, mich und das Publikum auf die Schippe. Jedenfalls soll er das, denn natürlich finde ich Slam nicht scheiße. Aber das kann auch schief gehen.

Während ich die ersten Worte spreche, bin ich unruhig. Wenn ich Pech habe, gucke ich gleich auf acht beleidigte Slamerinnen und Slamer, ein wütendes Publikum und ernte großes Schweigen. Dieses Mal habe ich Glück, der Text funktioniert. Der Applaus ist laut, die Wertungen hoch. Und ehe ich es richtig realisiere, stehe ich im Finale.

Das Finale

Fabian Bublitz, der zweite Finalist, legt vor mit einem Text über den laotischen Kip. Wieder in Rapform, wieder viele Wortspiele, wieder geht das Publikum mit, lacht, gibt Zwischenapplaus, feiert. Der Text ist stark, Fabian erzielt eine sehr hohe Punktzahl.

Dann komme ich. "Ein bisschen fliegen" heißt der Text. Beobachtungen auf einer Bahnfahrt, Interaktionen mit Fahrgästen, Alltagsabsurdität. Der Text ist solide aber kein Glanzstück, egal, jetzt alles raus hauen. Ich ernte ein paar Reaktionen. Ob das reicht? Gerade ist mir das nicht so wichtig, es war ein super Abend zusammen auf der Bühne.

Alle werden noch einmal auf die Bühne gerufen. Aller ernten noch einmal riesen Applaus. Dann kommen die Wertungen. Es ist super knapp. Ein einziger Wertungspunkt trennt uns. 43 gegen 44 Punkte. Slam ist auch immer Glück, zumindest ein bisschen. Die Auftrittsreihenfolge, wer eine Wertungstafel hat, was es heute schon für Texte gab, Stimmung, Tagesform. Ein einziger Punkt, weniger Unterschied ging nicht. Gerard schreit etwas ins Mikro. Dann bin ich Landesmeister. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich realisiere es erst langsam, als ich wieder in Magdeburg ankomme, spät in der Nacht, wie so oft.

Entwicklung der Slam-Szene

Meine Kollegen beim MDR fragen mich ja regelmäßig, ob Poetryslam nicht schon lange tot ist. Man würde ja gar nichts mehr hören, über Slam, und relevant sei das ja auch noch nie so ganz gewesen, oder? Und, ohne mir zu nahe treten zu wollen, aber lesen da nicht sowieso nur Leute ihr Tagebuch vor oder extrem pathetische Texte über ihre Depression oder ihren Liebeskummer?

Ich kann das klar verneinen. Slam ist nicht tot, im Gegenteil. Die Szene wird zunehmend professioneller, größer und aktiver, und sie wächst, von der breiten Öffentlichkeit nicht immer bemerkt, seit Jahren immer weiter zu einem festen Teil der deutschen Kulturszene heran. Die vor vielen Jahren als Kneipenevent gestartete Szene füllt mittlerweile regelmäßig die Elbphilharmonie in Hamburg, Opernhäuser, Festivalbühnen und Hörsäle. Sie wandelt und entwickelt sich, und hat nebenbei eine Menge mittlerweile ziemlich bekannter Künstler herausgebracht, die alle im Poetryslambereich angefangen haben, damit aber wenig in Verbindung gebracht werden. In Sachsen-Anhalt ist das nicht anders.

Es mag stimmen, dass die Tage, an denen Julia Engelmann ihren Durchbruch gefeiert hat und für viele das Synonym für Poetryslam wurde, vorbei sind. Eine Zeit lang war Poetryslam überall Thema, "Diese neue Kunstform", "Junge Menschen, die dichten", "frech-verrückte-Konzepte". Slam war eine Zeit lang regelrecht gehyped. Und mit Poetryslam war zu dieser Zeit eigentlich immer Julia Engelmann gemeint, was ungefähr so ist, als würde man Helene Fischer als Synonym für das Wort Musik benutzen. Man kann sie mögen oder nicht mögen, aber sie ist eben nur ein Teil der Musikszene, wenn auch ein sehr erfolgreicher.

Der Hype um Poetryslam war wie fast jeder Hype: Erst fanden ihn alle unglaublich cool, dann super nervig und überflüssig, und dann wurde er wieder vergessen. Zum Glück ist Poetryslam so viel mehr als das. Eine besondere Kunstform, ehrlich, weil immer aufs Publikum angewiesen, immer im Wandel, immer ganz unterschiedlich, immer ein Experiment. Das geht manchmal auch schief, nicht jeder Slam ist gleich gut, nicht jeder Auftritt funktioniert. Slam bietet Platz für fast alles. Jedes Mal ungefähr sechs Minuten. Und dann lässt man sich überraschen. Das ist ja gerade das Schöne.

Schattenriss eines Sängers mit Mikrophon.
Bildrechte: Colourbox.de

Was geht in Sachsen-Anhalt an Poetryslam?

In Sachsen-Anhalt finden regelmäßig große und kleine Slams statt, ein Großteil davon in Magdeburg und Halle, aber z.B. auch in Wernigerode, Bernburg, Stendal und in vielen weiteren Orten. Die Größe reicht von mehreren hundert Zuschauern mit auftretenden Profis aus dem gesamten deutschsprachigen Raum bis zu kleinen, regionalen Slams mit 40 Zuschauern, bei denen auch Neueinsteiger sich ausprobieren können. Außerdem ist Poetryslam zunehmend auch anzutreffen auf Stadtfesten, Wohnzimmerkonzerten und anderen Formaten aller Art.

Der HALternativ e.V., der die meisten Poetryslamveranstaltungen in Sachsen-Anhalt organisiert, veranstaltet außerdem noch Songslams, Scienceslams, Standupcomedy und Lesebühnen.

Ein kleiner Überblick über regelmäßige Slamveranstaltungen:

Magdeburg

  • Regioslam Magdeburg: Jeden zweiten Donnerstag im Monat in der Sternbar (gerade Sommerpause: am 14.11. ist der nächste Termin)
  • Wortwäsche Poetryslam: Jeden dritten Samstag im Monat, Moritzhof (Nächste Termine: 19.10., 23.11.)


Halle

  • Slam de regional Halle: An späten Montagen je Monat im Objekt 5. (Nächste Termine 21.10., 25.11)


Mehr Infos und Termine für Sachsen-Anhalt gibt es auch auf den Seiten: https://www.halternativ-verein.de/ und https://www.livelyrix.de/

Leonard Schubert
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Das ist Leonard Schubert Leonard Schubert arbeitet als Praktikant in der Online-Redaktion von MDR SACHSEN-ANHALT. Seine Interessensschwerpunkte sind Politik, Umwelt und Gesellschaft. Erste journalistische Erfahrungen sammelte er beim Charles Coleman Verlag, für das Outdoormagazin Walden und beim ZDF. Neben seinem Praktikum arbeitet er an seinem Masterabschluss in Friedens- und Konfliktforschung. Über den Umweg Leipzig kam der gebürtige Kölner 2016 nach Magdeburg, wo er besonders gern im Stadtpark unterwegs ist. In seiner Freizeit steht er mit großer Leidenschaft auf den Poetryslambühnen Sachsen-Anhalts oder sitzt mit einem Eisbärbier am Lagerfeuer, irgendwo in Skandinavien.

Quelle: MDR/jr/agz

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT | 24. September 2019 | 15:10 Uhr

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