Am Tag danach Halle: "Es hätte jeden treffen können"

10. Oktober 2019, 14:14 Uhr

Halle rückt enger zusammen. Am Tag nach dem Anschlag auf die Synagoge gibt es in der Stadt nur ein Thema. Gleichzeitig mischen sich Alltag und Normalität in die Stimmung der Stadt, wie ein Rundgang am Donnerstag zeigt. Die Reportage zeigt auch, dass sich die Menschen die Frage nach dem Warum stellen. Woher kommt nur der Hass des Täters?

MDR-Reporter Oliver Leiste
Bildrechte: MDR/Luca Deutschländer

Blumen und Kerzen liegen nach dem Angriff auf die Synagoge in Halle mit zwei Toten am Vortag am Geoskop auf dem Marktplatz.
Auf dem Markt in Halle wurde eine Gedenkstelle aufgebaut. Bildrechte: picture alliance/dpa | Marek Majewsky

Es ist der Morgen nach dem "schwarzen Mittwoch", an dem zwei Menschen bei einem Anschlag in Halle getötet wurden. Nun, am Donnerstagmorgen steht eine junge Frau auf dem Marktplatz an der Gedenkstelle, die rund um das Geoskop neben dem Wasserspiel eingerichtet wurde. Auch sie zündet eine Kerze an und blickt traurig auf die anderen Kerzen dort. In der Hand hält sie eine Tragetasche. "Das Glück des Augenblicks" ist darauf zu lesen.

Viel größer könnte der Widerspruch zur aktuellen Situation in Halle kaum sein. Denn selten waren Unglück, Schmerz und Trauer in dieser Stadt größer als in den Stunden nach dem bewaffneten Angriff auf eine Synagoge. Dabei versuchte ein schwer bewaffneter Mann eine Synagoge zu stürmen, in der zu dieser Zeit etwa 60 Menschen einen Gottesdienst abhielten. Als der Täter an der verriegelten Tür scheiterte, erschoss er eine Passantin und einen Mann im Dönerimbiss ein paar Hundert Meter weiter.

"Es hätte jeden treffen können"

Das Entsetzen darüber ist auch am Tag danach vielen noch anzumerken. Immer wieder bleiben Menschen am Morgen an der Gedenkstelle stehen. Vor allem Frauen verweilen länger. Maxi, die auf dem Weg zur Berufsschule ist, fragt sich, woher all der Hass auf der Welt kommt. Die menschenleere Stadt, die sie am Mittwoch erlebte, lässt sie auch heute noch schaudern.

Eine andere Frau kämpft mit den Tränen – Jessy, eine junge Mutter aus Halle. Sie berichtet, welche Ängste sie am Vortag ausstehen musste: Weil ihr kleines Kind bei der Tagesmutter war und sie dort zunächst niemanden erreichen konnte. Weil ihr Freund noch kurz vor der Tat in besagten Dönerladen Essen war. Und weil die Mutter als Taxifahrerin auf der Straße unterwegs war, als eigentlich alle die Häuser nicht verlassen sollte. "Es hätte jeden von uns treffen können", sagt sie und fasst damit das Gefühl zusammen, was man auch von der Blumenverkäuferin am Bahnhof oder von anderen Hallensern auf dem Markt hört. Denn jeder kennt jemanden, der erst kürzlich in dem Dönerladen war oder in den umliegenden Kneipen.

Nicht mehr weit weg

Das ist der große Unterschied zu anderen Anschlägen bisher. Da war vieles weit weg, die Opfer blieben anonym. "Man hat immer gedacht, so was passiert nur in großen Städten wie Paris oder London", erzählt die Verkäuferin eines Imbisswagens auf dem Markt. "Ich hätte mir nie vorstellen können, dass so etwas in einer kleinen Stadt wie Halle möglich ist." Dass sich diese Annahme als Irrglaube herausstellte, ist besonders schmerzhaft für die Menschen hier.

Wenig erinnert an den Vortag

Doch während der Schock bei den Menschen tief sitzt, deutet in Halle kaum etwas auf die Geschehnisse des Vortages hin. Im 6:23-Uhr-Zug von Leipzig war der Angriff kein großes Thema. Die Menschen schauten müde vor sich hin – oder auf ihre Handys. Am Bahnhof in Halle angekommen ist es ähnlich. Polizisten – vielleicht zwei oder drei mehr als gewöhnlich – stehen in lockerer Runde in der Bahnhofshalle und unterhalten sich mit den Sicherheitsmitarbeitern der Bahn.

Die Blumenverkäuferin bereitet ihren Laden für den Tag vor. Auf Nachfrage erzählt sie von der Bahnhofssperrung am Vortag und von schwer bewaffneten Polizisten. Am Morgen ist davon nichts mehr zu sehen. Einzig zwei Kamerateams vor dem Bahnhof erinnern daran, dass die Situation alles andere als alltäglich ist.

"Erschreckend normal"

Auch auf dem Marktplatz herrscht abseits der Gedenkstelle geschäftiges Treiben. Überall werden Stände aufgebaut und befüllt. "Es ist erschreckend, wie normal heute alles ist", sagt Maxi, bevor sie sich selbst auf den Weg zur Berufsschule macht. Dort wird der Angriff sicher ein großes Thema sein, glaubt sie. Genau wie überall in der Stadt. Noch am Morgen erscheinen weitere Medienteams am Marktplatz. Im Laufe des Tages wird es Pressekonferenzen und Beileidsbekundungen hochrangiger Politiker geben. Auch auf dem Markt ist eine weitere Gedenkveranstaltung geplant.

Doch Zeit, groß innezuhalten, wird nicht bleiben. "Es muss ja weitergehen", sagen die Verkäuferinnen auf dem Markt schon am Morgen. "Wir können uns ja jetzt nicht einigeln." Der Moment des großen Unglücks in Halle, er ist auch ein Unglück des Augenblicks. Denn auch wenn viele Menschen noch trauern und Zeit brauchen werden, das Unfassbare zu verarbeiten, wird der Alltag das Stadtleben schon bald wieder übernehmen. Das ist schon am Morgen nach der schrecklichen Tat deutlich zu merken.

Quelle: MDR/olei

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 10. Oktober 2019 | 19:00 Uhr

4 Kommentare

coco am 10.10.2019

Traurig was aus Deutschland geworden ist. Leider gibt es immer wieder solche traurige Ereignisse. Bei aller Trauer für die Opfer, wo waren die Politiker, wo der Anschlag in Limburg stattfand, wurde da eine Pressekonferenz für die Verletzten gegeben? Aber, da sieht man, dass unsere Politiker mit zweierlei Maß messen. Wo waren die Bekundungen zu Limburg oder Berlin Breitscheitplatz. Es darf keinen Extremismus u. Terror geben, egal ob links rechts oder Islamistischen. Schuld ist die Politik. Ich finde diese Politiker sind Heuchler. Man darf überhaupt solche Terrorhandlungen nicht zu lassen. Merkel u. ihre Politik ist Hauptverursacher, dass Deutschland gespalten ist.

C.T. am 10.10.2019

Wenn man die jeweiligen Motivationen für solche Taten mal außen vor lässt muss man eingestehen, dass sich Amokläufe nie gänzlich verhindern lassen und dass sie jeden Teil der Gesellschaft treffen können. Beispiele gibt es zu Hauf: Kitzbühl 2019, Emsdetten 2006, Winnenden 2009, Ansbach 2015, München 2016, und und und ... Das ist kein Problem das sich nur auf "Rechts" oder "Judenhass"reduzieren lässt! Und vor allem nicht nur auf den Osten!

wwdd am 10.10.2019

"Erschreckend normal", denn man gewöhnt sich mittlerweile an den linken, rechten oder islamistischen Terror und freut sich, dass man nicht selbst oder seine Angehörigen betroffen waren. Das ist ein Schutzmechanismus des Menschen.

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