Kein Schulabschluss Die zweite Chance nach dem Schulabbruch

30. September 2019, 09:01 Uhr

Schwache Leistung, keine eigene Motivation, Mobbing, Konflikte in der Familie – das sind nur einige der vielen möglichen Gründe für Jugendliche, die Schule abzubrechen. Doch sie bekommen eine zweite Chance auf einen Hauptschulabschluss.

MDR-Redakteur Roland Jäger
Bildrechte: Philipp Bauer

Robin Stübing weiß genau, warum er seinen Hauptschulabschluss in der Sekundarschule nicht geschafft hat: "Wenn ich ehrlich bin: Ich war auch oft einfach faul." Der 16-Jährige zählt in der Statistik als Schulabbrecher – wie die insgesamt 2.004 Jugendlichen, die im Schuljahr 2017/2018 in Sachsen-Anhalt keinen Abschluss gemacht haben.

Doch das bedeutet nicht, dass Robin nun überhaupt keinen Unterricht mehr besucht: Wir treffen ihn, als er an einem Werkstück aus Holz arbeitet, in einem dafür ausgestatteten Werk-Raum in der Berufsbildenden Schule "Conrad Tack" in Burg. Er macht ein Berufsvorbereitungsjahr (BJV), das heißt: Hier wird ihm praktisches Wissen vermittelt, das ihm und seinen Mitschülern helfen soll, ein Berufsfeld für sich zu entdecken. Im Berufsvorbereitungsjahr können Jugendliche wie Robin ihren Hauptschulabschluss nachholen – die zweite Chance auf einen Schulabschluss, die jedes Jahr einige hundert Schüler in Sachsen-Anhalt nutzen.

Robin Stübing ist einer von rund 80 Jugendlichen, die derzeit an der BBS "Conrad Tack" in Burg das Berufsvorbereitungsjahr machen. Er kommt von einer Sekundarschule, viele seiner Mitschüler von Förderschulen. Weil es dort überhaupt nicht möglich ist, einen anerkannten allgemeinbildenden Abschluss zu machen, zählen in Sachsen-Anhalt praktisch alle Abgänger von Förderschulen als 'Schulabbrecher'. Viele machen danach in einer Berufsbildenden Schule ein Vorbereitungsjahr, um den Abschluss doch noch zu erreichen.

Jerichower Land: Die höchste Abbruchquote Sachsen-Anhalts

Nirgendwo im Land ist die Quote der Schulabgänger ohne Abschluss höher als im Jerichower Land: 13,94 Prozent gibt die Caritas in einer Studie an. Das bedeutet: 2017/2018 haben in dem Landkreis insgesamt 88 Schüler keinen Hauptschulabschluss erreicht. 37 von ihnen waren an einer Förderschule und hatten dort auch überhaupt nicht Möglichkeit, den Abschluss zu erwerben. Die meisten Abbrecher aber waren zuvor an Sekundarschulen (42) und Gemeinschaftsschulen (8).

Alexander Mittendorf ist als Schulsozialarbeiter allein für die rund 1.500 Schüler der Berufsbildenden Schule in Burg zuständig. Wenn Schüler untereinander oder mit Lehrern Konflikte haben, wenn Mobbing das Klassenklima belastet – und vor allem: Wenn sich ein drohender Schulabbruch abzeichnet, dann ist er gefragt.

Gründe für Schulabbruch

Die ersten Warnzeichen für Mittendorf sind regelmäßige Fehlzeiten von Schülern. Zuerst würden die ersten oder die letzten beiden Stunden abgehängt, erzählt er. Die Gründe dafür können vielfältig sein: "Wir nennen das in der Sozialpädagogik 'Multikomplexe Problemlagen'. Das kann zum Beispiel der Tod eines nahen Angehörigen sein. Verlusterfahrungen, die sie erlebt haben. Auch eine frühe Schwangerschaft, Teenagerschwangerschaft, eine sich entwickelnde Drogenproblematik – und natürlich Frustrationserfahrungen in der Schule."

Es gibt auch Fälle, da pflegen dann die Kinder und Jugendlichen ihre Eltern oder Angehörige oder fühlen sich für sie verantwortlich – und dass sie das dann mit einem Schulbesuch gar nicht mehr unter einen Hut bekommen.

Alexander Mittendorf, Schulsozialarbeiter

Der Schulsozialarbeiter versucht durch Gespräche mit dem Schüler, seinen Mitschülern, mit Eltern und Lehrern Konflikte zu lösen. Oft liegen die Ursachen fürs Schuleschwänzen aber gar nicht in der Schule selbst. Mittendorf arbeitet oft mit der Familien- und in einigen Fällen der Schwangerschaftsberatung zusammen, um Probleme zu lösen, die den Schulerfolg gefährden. Auch die Drogen- und Suchtberatung ist ein wichtiger Partner für ihn. Dass Drogensucht oft mit Schulabbruch einhergeht, beobachtet auch Suchtberater Andreas Fehrecke bei seinen Klienten: "Es hat auf jeden Fall zugenommen, dass ich etwas höre wie: 'Ich bin nicht mehr hingegangen zur Schule, ich habe keinen Schulabschluss, keinen Berufsabschluss.'" Von solchen Biografien höre er in den letzten Jahren häufiger.

Schulsozialarbeit: "Extrem wichtig"

Es ist nicht leicht für Schulsozialarbeiter wie Alexander Mittendorf das Verhalten von Jugendlichen zu ändern, die eventuell schon an der Sekundarschule oder Förderschule regelmäßig dem Unterricht ferngeblieben sind. Ihm bleibt dafür nur so lange Zeit, wie das Berufsvorbereitungsjahr dauert.

Lehrer könnten die Aufgaben der Schulsozialarbeiter nicht übernehmen, meint der Direktor der BBS "Conrad Tack", Marco Dominé: "Es ist extrem wichtig, wir könnten ohne Schulsozialarbeit schwer die Probleme meistern. Also: Schwer bis eigentlich überhaupt nicht, würde ich sagen. Wir haben jetzt aktuell 1.400 bis 1.500 Schüler und haben einen Schulsozialarbeiter. Da sind wir auch froh. Aber normalerweise könnten wir zweieinhalb haben und auslasten."

Schulsozialarbeit: Finanzierung ab 2020 unklar 

Schulsozialarbeit in Sachsen-Anhalt wird derzeit zu großen Teilen vom Europäischen Sozialfonds (ESF) finanziert, der jedoch am 31. Juli 2020 auslaufen wird. Wie die Arbeit von Alexander Mittendorf und dessen Kollegen danach bezahlt werden kann, wird derzeit verhandelt. Bildungsminister Marco Tullner (CDU) sagte MDR SACHSEN-ANHALT, die bisherige Zahl von ca. 380 Sozialarbeitern an Schulen solle auch nach 2020 nicht reduziert werden: "Wenn es mit den EU-Verhandlungen schwierig wird, wird das Land mit eigenen Mitteln eingreifen. Sodass eine Absicherung der Schulsozialarbeit auf dem Niveau, wie wir sie bisher haben, auf jeden Fall gesichert ist."

Mit 12 Jahren nicht mehr zur Schule

Doch nicht allen kann ein Berufsvorbereitungsjahr an einer Berufsbildenden Schule noch helfen, einen Abschluss zu schaffen. Ebenfalls in Burg kümmert sich das Projekt 'Stabil' um Jugendliche, die auch das BVJ geschmissen haben – oder die andere Probleme haben, die mit Schulabbruch zusammenhängen.

Eileen Hoppe ist 20 Jahre alt und eine der Teilnehmerinnen bei 'Stabil'. Als sie 12 Jahre alt war, habe sie begonnen, die Schule zu schwänzen, erzählt sie uns: "Da hab ich Leute kennengelernt, die schon älter waren, hab mich mit denen angefreundet. Einer hatte auch 'ne eigene Wohnung. Und da haben wir fast jeden Tag Zeit verbracht, in der großen Gruppe. Und dann wollte man da mehr sein als in der Schule."

Als sie 14 Jahre alt war, wurde sie in der Schule gemobbt – und ging daraufhin überhaupt nicht mehr in die Schule. Zwei Anläufe für das Berufsvorbereitungsjahr, die zweite Chance auf den Hauptschulabschluss, sind bereits gescheitert. Sie habe Ängste vor Schule und Mitschülern entwickelt, sagt Eileen. Eine Zeit lang habe es ihr sogar schwer gefallen, morgens aufzustehen und etwas mit ihrem Tag anzufangen. Bei 'Stabil' lernt Eileen Hoppe zusammen mit rund 60 anderen Jugendlichen, erste Schritte hin zu Abschluss, Ausbildung und Arbeit zu gehen.

Stabil: Produktive Arbeit schafft Orientierung

Das Konzept bei 'Stabil': Die Jugendlichen arbeiten – oft erstmals in ihrem Leben – regelmäßig und auf Augenhöhe mit Erwachsenen. Für das Unternehmen Burger Küchenmöbel schrauben sie Mustergriffe auf Platten, die in Möbelhäusern als Schaustücke ausgehangen werden. Oder sie bedienen Gäste in einem kleinen Restaurant. 

Die Sozialarbeiterin Elke Hentsche leitet das Projekt und erklärt die Idee dahinter: "Das vermittelt den Jugendlichen so ein Gefühl von 'Ich bin hier wichtig – und wenn ich hier fehle, können wir den Produktionsauftrag nicht so umsetzen, wie es sein soll.' Das macht natürlich was mit dem Selbstbewusstsein."

Es gibt durchaus Jugendliche, die von Obdachlosigkeit bedroht sind oder eine Schuldenproblematik mit sich bringen. Und ein Thema was mehr und mehr zunimmt, sind einfach Suchtmittelkonsum und die Konsequenzen daraus.

Schulabbruch ist den Erfahrungen von Elke Hentsche nach die Konsequenz aus anderen Problemen, die die Jugendlichen haben. Zerbrochene Familienstrukturen, sozial-schwache und bildungsferne Eltern können ebenso eine Rolle spielen wie Drogenabhängigkeit oder psychische Probleme. 'Stabil' versucht nicht nur Arbeit, sondern auch Familienersatz zu sein.

Ein Jahr lang werden die Jugendlichen in dem Projekt betreut. Elke Hentsche zufolge wechseln die meisten danach entweder in eine schulische oder betriebliche Ausbildung, mindestens aber in eine Maßnahme des Jobcenters. Auch das Berufsvorbereitungsjahr kann dann wieder eine Option sein – wie für Eileen Hoppe. Sie ist entschlossen, nach 'Stabil' einen dritten Anlauf zu wagen und das BVJ, und damit ihren Hauptschulabschluss, endlich zu schaffen. Gern möchte sie eine Ausbildung zur Erzieherin in einer Kita beginnen.

MDR-Redakteur Roland Jäger
Bildrechte: Philipp Bauer

Über den Autor Roland Jäger arbeitet seit 2015 für den Mitteldeutschen Rundfunk – zunächst als Volontär und seit 2017 als Freier Mitarbeiter im Landesfunkhaus Magdeburg. Meist bearbeitet er politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen – häufig für die TV-Redaktionen MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE und Exakt - Die Story, auch für den Hörfunk und die Online-Redaktion. Auf Twitter ist er unter @roland__jaeger zu finden.

Vor seiner Zeit bei MDR SACHSEN-ANHALT hat Roland Jäger bei den Radiosendern Rockland und radioSAW erste journalistische Erfahrungen gesammelt und Europäische Geschichte und Germanistik mit Schwerpunkt Medienlinguistik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg studiert.

Quelle: MDR/rj

Dieses Thema im Programm: MDR S-ANHALT | MDR Fakt ist aus Magdeburg | 30. September 2019 | 22:05 Uhr

1 Kommentar

Wenzel am 30.09.2019

Schüler an Förderschulen können dort keinen Schulabschluss erreichen und gelten somit als Schulabbrecher? Wenn es keinen Unterschied macht, ob ich dort jeden Tag zur Schule gehe oder eben nicht, kann ich gut verstehen, wenn es die Jugendlichen ganz lassen. In unserem sehr theoretisch ausgerichteten Schulsystem fallen alle hinten runter, die auf anderen Gebieten ihre Stärken haben. Da nützen auch 2 Wochen Schülerpraktikum im Schuljahr als Alibi nix. Ein schwerer Legastheniker mit zwei "Goldenen Händen" bleibt in diesem System genauso chancenlos wie einer, der lieber auf dem Sofa liegen bleibt. Dann läuft immer mal wieder auch noch die Förderung für die Schulsozialpädagogen zum Jahresende aus. Mit dieser Beschulung bildet man im Land der Dichter und Denker äußerst effektiv und kontinuierlich den Nachwuchs für das Prekariat von morgen heran. Wohl mit Absicht: Dumme lassen sich ja angeblich auch leichter regieren bzw. am Nasenring herumführen.

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