Partei will erstmals in den Landtag Freie Wähler: Kreisvorsitzende greifen Landesvorstand an – der reagiert gelassen

20. Januar 2021, 08:47 Uhr

Die Freien Wähler wollen im Juni zum ersten Mal in den Landtag von Sachsen-Anhalt einziehen. Voriges Wochenende hat die wachsende Partei ihre Landesliste aufgestellt, nun will sie zeitnah die nötigen Unterschriften sammeln. Doch in der Partei gibt es Ärger – der nun öffentlich ausgetragen wird. Einige Kreisvorsitzende wollen die Ergebnisse des Listenparteitags anfechten.

Luca Deutschländer
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Die Pressemitteilung liest sich wie eine Anklage auf zwei DIN-A4-Seiten. Von einem "undemokratischen Listenparteitag" ist die Rede. Von einer bewussten Gesundheitsgefährdung. Und von Zensur. Verfasst haben all das sechs Kreisvorsitzende der Freien Wähler in Sachsen-Anhalt. Adressat ihrer Botschaft ist der Landesvorstand um Vorsitzende und Spitzenkandidatin Andrea Menke. Es benötigt nicht viele Telefonate, um festzustellen: Von der Aufbruchstimmung, die für gewöhnlich von Parteitagen ausgeht, ist bei den Freien Wählern in diesen Tagen kaum etwas zu spüren. Jedenfalls nicht öffentlich.

Doch die Lage ist etwas vertrackter, als sie sich beim ersten Lesen der Pressemitteilung darstellt. Guter Polizist, böser Polizist – so einfach ist es hier nicht. Deshalb nimmt diese Geschichte bereits am Ende des vergangenen Jahres an Fahrt auf. Dezember 2020: In einer Pressemitteilung teilt der Landesvorstand mit, den für den 9. Januar 2021 geplanten Listenparteitag der Freien Wähler um eine Woche zu verschieben – in der Hoffnung, die Corona-Lage habe sich bis dahin etwas entspannt. Einige Kreisvorsitzende wollen angesichts der Pandemie eine Verschiebung bis in den Februar hinein – setzen sich mit ihrer Forderung aber nicht durch. Der Landesvorstand argumentiert: Wir müssen die Liste jetzt aufstellen, weil für die Zulassung zur Landtagswahl noch 5.100 Unterschriften zu sammeln sind. Alles andere sei, Corona-bedingt, zeitlich nicht zu schaffen.

Fraktionen im Landtag prüfen Absenkung von Quorum

Im Landtag laufen indes schon Absprachen, die Zahl der notwendigen Unterstützerunterschriften in diesem Jahr zu senken. Grund auch hier: die Corona-Pandemie. Kleine Parteien wie die Freien Wähler argumentieren, es sei ihnen wegen Kontaktbeschränkungen und Co. kaum möglich, ausreichend Unterschriften zusammenzubekommen. Einen Stand auf dem Marktplatz aufbauen und um Zustimmung werben? In Corona-Zeiten undenkbar. Unter CDU, SPD, Grünen und Linken herrscht nach Recherchen von MDR SACHSEN-ANHALT Einigkeit darüber, das Quorum deshalb abzusenken. Die Linken hoffen, der nötige Gesetzesentwurf könne schon Anfang Februar in den Landtag eingebracht werden. Linken-Fraktionschef Thomas Lippmann sagt: "Die Gesetzesänderung muss durch zwei Lesungen gehen, da müssen sich die Koalitionsfraktionen mit uns einig sein. Da muss man sich beeilen jetzt."

Der Landesvorstand der Freien Wähler geht allerdings davon aus, dass der Gesetzgeber frühestens im März zustimmen wird. Dann würde es eng, die nötigen Unterschriften bis zum Stichtag am 19. April zusammenzubekommen, heißt es.

Jost Riecke ist Kreisvorsitzender der Freien Wähler in Magdeburg. Auch sein Name prangt unter der Pressemitteilung, die sechs Kreisvorsitzende herausgegeben haben. Über das Absenken des Quorums sagt er, nun sei Bewegung in der Sache. Das Wahlgesetz werde geändert, der Partei werde der Zeitdruck für die Sammlung der Unterschriften genommen. Dass man sich am Wochenende getroffen hat, um die Liste aufzustellen, hält Riecke in diesen Zeiten für unverantwortlich. Er sagt: Viele Mitglieder hätten sich wegen der gesundheitlichen Gefahr nicht getraut, zum Parteitag nach Stendal zu kommen. 

Fakt ist: Die Spitzenkandidatin ist gewählt – mit deutlicher Mehrheit

Bei dieser Vorgeschichte mit unterschiedlichen Meinungen bleibt eines Fakt: Gut 80 der landesweit rund 270 Freien Wähler sind voriges Wochenende zusammengekommen und haben die Landesliste gewählt. An der Spitze steht Andrea Menke, die Landesvorsitzende. In der Wahl setzte sie sich gegen Riecke durch. Mit 67 zu 10 Stimmen. Riecke hatte zuvor beantragt, den Parteitag Corona-bedingt abzubrechen. Das aber war von den Mitgliedern abgelehnt worden.

Das ist die Vorgeschichte, die es benötigt, um den Konflikt zu verstehen. "Mit der Diskussion um die Termine fing alles an", erzählt Jost Riecke am Dienstag am Telefon. Seinem Landesvorstand wirft er vor, grobe organisatorische wie rechtliche Fehler gemacht zu haben. Bei der Vorbereitung des Parteitags. Und bei der Bitte an den Landtag, eine Absenkung der nötigen Unterschriftenzahl zu prüfen. In der Tat schreibt der Landesvorstand in einer Pressemitteilung, man habe die Landeswahlleiterin und die Landtagspräsidentin gebeten, in dieser Frage aktiv zu werden – dabei wäre das, wie von Riecke angemerkt, tatsächlich Sache der Fraktionen im Landtag. 

Landeschefin Menke ist "gelassen"

Doch was sagt die Frau dazu, die hier so scharf angegangen wird? Deren Rücktritt gefordert wird? Andrea Menke, seit März 2020 Landesvorsitzende, betont, sie sehe all den Vorwürfen gelassen entgegen – auch, dass ihre Kritiker die Landesliste anfechten wollen. "Es ist alles völlig ordnungsgemäß abgelaufen", sagt Menke am Telefon. Ihr ist wichtig, in der Debatte eines klarzustellen: Bei den Verfassern der Kritik handele es sich um sechs Kreisvorsitzende. Nicht um ganze Kreisverbände. "Ich weiß die Mehrheit unserer Mitglieder hinter mir", sagt sie. Dass ihr nebenbei vorgeworfen wird, unter den Listenkandidaten sei nur ein einziges langjähriges Mitglied der Freien Wähler, findet Menke dann doch absurd – vor allem, weil der Vorwurf aus der Richtung jener sechs Kreisvorsitzender kommt, von denen viele selbst noch neu in der Partei sind.

Zur Einordnung: Jens Diederichs, Landtagsabgeordneter, zog einst für die AfD ins Parlament ein. Danach war er Teil der CDU-Fraktion im Landtag, inzwischen ist er fraktionsloser Abgeordneter. Seit etwa einem Jahr ist Diederichs laut Menke bei den Freien Wählern. Zwei weitere Unterzeichner seien ein Dreivierteljahr dabei. Und der schon erwähnte Jost Riecke wechselte erst vor wenigen Monaten zu den Freien Wählern. Vorher war er lange in der SPD, hatte dort unter anderem für den Landesvorsitz kandidiert.

Kritiker fürchten Übernahme durch frühere CDUler

Menkes Kritiker entgegnen, die Freien Wähler würden mehr und mehr von früheren CDUlern eingenommen. Es fällt sogar das Wort "Übernahme". In der Tat gibt es im Spitzentrio der Freien Wähler einige mit CDU-Vergangenheit: Andrea Menke selbst war früher bei der CDU, auch Nico Schulz, Abgeordneter auf Listenplatz 2, ging vor gar nicht langer Zeit und nicht im Guten mit der CDU auseinander. Jost Riecke spricht von einem "Postengeschacher", wegen dem er aus der SPD ausgetreten sei. "Nun bin ich vom Regen in die Traufe gekommen", sagt er.

Das sind die Freien Wähler

Die Freien Wähler wollen das erste Mal in den Landtag einziehen. In Sachsen-Anhalt hat die Partei nach eigenen Angaben 270 Mitglieder und ist damit in der jüngeren Vergangenheit stark gewachsen. Im anstehenden Wahlkampf will die Partei, die in zahlreichen Gemeinde- und Kreisräten präsent ist, mit ihrem Kernthema Kommunalpolitik punkten. Der Wahlkampf soll unter dem Motto "#WirsindHeimat" stehen. Ein Punkt, den die Freien Wähler sich vorgenommen haben, ist die bessere finanzielle Ausstattung der Gemeinden.

Vorwurf der Zensur: Aussage gegen Aussage

Und da ist noch etwas. Stichwort Zensur. In ihrem Schreiben an die Presse bemängeln die Kritiker, bei der Vorbereitung des Parteitages seien Schreiben von Kandidaten – sogenannte Kandidatenbriefe – bewusst zensiert worden. Darunter jenes von Jost Riecke. Andrea Menke verweist auf die Wahlordnung ihrer Partei. Darin steht, Kandidatenbriefe dürften keine falschen Tatsachenbehauptungen oder persönliche Angriffe in Richtung des Vorstandes oder einzelner Vorstandskandidaten enthalten. Bei zwei Briefen sei das aber der Fall gewesen, auch bei dem von Jost Riecke. Deshalb seien sie nicht an die Mitglieder weitergeleitet worden. Jost Riecke entgegnet, sein Brief sei "dynamisch geschrieben" gewesen. Persönliche Anfeindungen seien darin aber nicht enthalten gewesen. Es steht Aussage gegen Aussage.

Wie geht es nun weiter? Die Kritiker des Landesvorstandes wollen die Wahl anfechten. Der Landesvorstand dagegen wird alles vorbereiten, um zeitnah mit dem Sammeln von Unterschriften für die Landtagswahl beginnen zu dürfen. Denn bei allen Misstönen zwischen einzelnen Kritikern und dem Landesvorstand bleibt das Ziel der Freien Wähler dasselbe: Sie wollen im Juni in den Landtag einziehen.

Luca Deutschländer
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Über den Autor Luca Deutschländer arbeitet seit Januar 2016 bei MDR SACHSEN-ANHALT. Seine Schwerpunkte sind Themen aus Politik und Gesellschaft. Bevor er zu MDR SACHSEN-ANHALT kam, hat der gebürtige Hesse bei der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeine in Kassel gearbeitet. Während des Journalistik-Studiums in Magdeburg Praktika bei dpa, Hessischem Rundfunk, Süddeutsche.de und dem Kindermagazin "Dein Spiegel". Seine Lieblingsorte in Sachsen-Anhalt sind das Schleinufer in Magdeburg und der Saaleradweg - besonders rund um Naumburg. In seiner Freizeit steht er mit Leidenschaft auf der Theaterbühne.

Quelle: MDR/ld

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 19. Januar 2021 | 17:00 Uhr

1 Kommentar

SGDHarzer66 am 19.01.2021

Die FW in Sachsen-Anhalt wissen nur zu gut, das sie die Prozenthürde nicht überspringen werden.
Ihnen geht es lediglich um die Wahlkampfkostenerstattung ab 1% der Stimmen, um den Landesverband finanziell am Laufen zu halten.

Das Getöse im Vorfeld ist dabei typisch für die Parteienlandschaft; letztlich aber nur ein Spiegelfechten.
Guten Tag.

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