Deutschkurse und Beratungsgespräche Wie ein Pilotprojekt Migrantinnen in Sachsen-Anhalt beim Berufseinstieg hilft

28. November 2020, 17:33 Uhr

Nur wenige nach Sachsen-Anhalt geflüchtete oder zugewanderte Frauen haben einen Job. Ein Projekt unterstützt sie seit Jahresbeginn beim Berufseinstieg. Doch wegen der Corona-Pandemie finden Sprachkurse und Beratungsgespräche fast nur online statt. Hilft das den Migrantinnen trotzdem? Ein Unterrichtsbesuch

Maria Hendrischke
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Ein fast menschenleerer Unterrichtsraum des Europäischen Bildungswerks für Beruf und Gesellschaft (EBG) im Magdeburger Stadtteil Westerhüsen. Eigentlich finden hier seit Anfang des Jahres Deutschkurse für Migrantinnen statt. Doch wegen der Corona-Pandemie sind diese Kurse ins Internet verlegt worden. Darum sitzt nur Kursleiterin Iryna Urbahn im Raum, vor ihr steht ein Laptop, neben ihr liegt ein aufgeschlagenes Deutschbuch. Ihre Kursteilnehmerinnen sieht sie auf dem PC-Bildschirm.

Obwohl im Unterrichtsraum reichlich Platz ist, sitzt Urbahn in der hintersten Ecke. Denn nur dort kann sie ihren Laptop sowohl mit einer Steckdose als auch mit dem LAN-Kabel verbinden. Das WLAN im Gebäude ist zu schwach für den Online-Deutschkurs, den Urbahn über ein Videokonferenz-Tool leitet. Um den Digitalisierungsstand Sachsen-Anhalts noch zu verdeutlichen, bricht mitten im Kurs die Internetverbindung kurz ab – trotz LAN-Kabel.

Sechs Kursteilnehmerinnen, fünf Herkunftsländer

Keine idealen Unterrichtsbedingungen also. Aber die Teilnehmerinnen am Deutschkurs für Fortgeschrittene sind online-erprobt, geduldig, konzentriert – und sehr motiviert. Sechs Frauen haben sich zum Deutschkurs am Donnerstagvormittag zugeschaltet. Sie stammen aus fünf verschiedenen Herkunftsländern – Syrien, Afghanistan, Russland, Iran, Venezuela – und sind zwischen 22 und 52 Jahren alt. Manche Teilnehmerinnen haben viele Jahre Berufserfahrung, andere stehen noch ganz am Anfang ihres Arbeitslebens. Was die diverse Gruppe aber gemeinsam hat: Alle leben in Sachsen-Anhalt und suchen einen Job, der zu ihren Fähigkeiten und Interessen passt. Und sie wissen, dass die Voraussetzung dafür gute Deutschkenntnisse sind.

Auf dem Weg zu ihrem Wunschberuf begleitet die Frauen die Fach- und Servicestelle "Blickpunkt: Migrantinnen", die vom Caritasverband für das Bistum Magdeburg, dem Europäischen Bildungswerk für Beruf und Gesellschaft (EBG) und dem Forschungsinstitut Minor getragen wird. Zwischen dem jeweiligen Berufswunsch der Frauen und einem Arbeitsvertrag lägen oft ganz individuelle Hürden, sagt die Leiterin der Abteilung Migration und Integration der Caritas Magdeburg, Monika Schwenke. "Mit 'Schreib doch einfach eine Bewerbung!' ist es nicht getan."

Das ist "Blickpunkt: Migrantinnen"

"Blickpunkt: Migrantinnen" ist eine Fach- und Servicestelle, die vom Caritasverband Magdeburg, dem Europäischen Bildungswerk für Beruf und Gesellschaft (EBG) und dem Forschungsinstitut Minor getragen wird. Seit Anfang 2020 unterstützt das Projekt in Sachsen-Anhalt lebende Migrantinnen dabei, einen Job zu finden, der zu ihren Qualifikationen passt. Dazu bietet die Servicestelle den Frauen persönliche Beratungsgespräche sowie Deutsch- und Empowerment-Kurse an. Corona-bedingt finden die Kurse derzeit überwiegend als Online-Videokonferenzen statt.

Ziel des Projekts "Blickpunkt: Migrantinnen" ist es, dass mehr zugewanderte Frauen in Sachsen-Anhalt beruflich integriert werden – und dadurch auch zu Vorbildern für andere Migrantinnen werden. Die Servicestelle erarbeitet auch Handlungsempfehlungen für die Politik. Der Projektpartner Minor erhebt außerdem aktuelle Daten zu Migrantinnen in Sachsen-Anhalt.

Finanziert wird das Projekt über den Europäischen Sozialfonds und vom Sozialministerium Sachsen-Anhalt. Etwa eine Million Euro steht für zweieinhalb Jahre bereit, bis Mitte 2022. Aber das Projekt will seine Angebote zur Arbeitsmarktintegration für zugewanderte Frauen auch noch über diesen Zeitraum hinaus anbieten. Sachsen-Anhalts Integrationsbeauftragte und Staatssekretärin im Sozialministerium, Susi Möbbeck (SPD), teilte MDR SACHSEN-ANHALT auf Nachfrage mit: "Aus fachlicher Sicht wird die Fortführung des Projektes über das Jahr 2022 als notwendig erachtet. Wir werden uns daher für eine nachhaltige Förderung einsetzen."

Herausforderungen: Dokumente anerkennen, Sprachtest, Zusatz-Studium

Ein gutes Beispiel dafür, warum es für Migrantinnen nicht ganz so leicht ist, ist Kursteilnehmerin Mojdeh* aus Magdeburg. Sie kommt aus dem Iran und lebt seit 2015 in Deutschland. Im Iran hat sie 20 Jahre lang als Physiklehrerin gearbeitet. Auch in Deutschland will sie wieder als Lehrerin arbeiten.

Aber der Weg dahin ist lang: Zum einen muss sie Deutschkenntnisse auf dem Niveau C1 nachweisen können – das entspricht sehr fortgeschrittenen Sprachkenntnissen. Zum anderen müssen Lehrkräfte in Deutschland – anders als im Iran – mindestens zwei Fächer unterrichten können. Neben Physik könnte das bei Mojdeh zum Beispiel Mathe oder Chemie sein. Ähnlich ist es bei der Englischlehrerin Tamam aus Syrien. Auch sie braucht ein zweites Fach, um als Lehrerin arbeiten zu können – vielleicht Französisch, überlegt sie. Mojdeh und Tamam müssen für ihr Zweitfach nochmal studieren.

Afghanische Frauen bei einer Präsentation von Kursen, die ihnen bei der Integration in den Arbeitsmarkt helfen sollen.
Die Auftaktveranstaltung des Projekts im Februar konnte noch in den Räumen des EBG stattfinden. Bildrechte: MDR/Maria Hendrischke

Für so einen Studienplatz hat Mojdeh am nächsten Tag ein Online-Vorstellungsgespräch mit der Uni Bochum. "Ich bin sehr aufgeregt", sagt sie. Und lächelt zugleich – stolz, dass sie es auf dem Weg zu ihrem Wunschberuf schon so weit geschafft hat. "Ich finde diesen Kurs sehr, sehr gut", sagt sie. Denn sie sei nun viel sicherer beim Deutschsprechen, selbstbewusster. Sie traue sich, auch einmal etwas falsch zu sagen. Alle sechs Kursteilnehmerinnen heben hervor, dass ihr Deutsch durch den Kurs besser geworden sei.

Anastasia, deren Muttersprache Russisch ist, will ihre C1-Deutschprüfung schaffen, um studieren zu dürfen. Sie hat bereits einen Bachelor in Wirtschaft, ihr Abschluss ist in Deutschland anerkannt worden. In Magdeburg will sie nun ihren Master machen. Danach kann sie sich vorstellen, in einer Personalabteilung oder auch in der Ausländerbehörde zu arbeiten.

Flexible Angebote, die zum Leben der Frauen passen

Sprachkurse setzen meist eine regelmäßige Teilnahme an festen Tagen, zu festen Uhrzeiten voraus. Aber Migrantinnen, die zum Beispiel kleine Kinder betreuen, ein Praktikum machen oder einen Minijob haben, brauchen oft mehr Flexibilität. Für die Syrerin Wala ist es praktisch, dass sie immer dann an den Online-Sprachkursen teilnehmen kann, wenn es für sie passt. Die zweifache Mutter macht seit Mitte November ein Praktikum bei der Magdeburger Kita, in die ihre Kinder gehen. Das Praktikum ist Voraussetzung, um eine Ausbildung zur Erzieherin machen zu können – Walas Wunschberuf.

Begleitend zum Praktikum kann Wala an den Deutschkursen teilnehmen. Sie findet es trotz der gelegentlichen technischen Probleme gut, dass die Kurse online stattfinden: Das spare Zeit und Fahrtkosten und sei besser mit dem Praktikum vereinbar. Nur Nebengeräusche seien manchmal ein Problem: "Wenn meine Kinder auch zu Hause sind, verstehen sie ja nicht, dass ich gerade lerne."

Hilfe beim Weg in die deutsche Arbeitswelt

Die Lebensrealitäten der Migrantinnen passten oft nicht zu den Anforderungen des deutschen Arbeitsmarkt-Systems, sagt Monika Schwenke von der Caritas. Es müssten administrative Hürden zwischen den Anforderungen von beispielsweise Ausländerbehörde, Jobcenter und auch den potenziellen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern überwunden werden, erklärt sie. Die Leiterin der Fach- und Servicestelle, Jennifer Heinrich, erklärt, "Blickpunkt: Migrantinnen" unterstütze die Frauen durch flexible Beratungsgespräche und das Kursangebot dabei, diese Konflikte zu lösen. Das Projekt sei somit ein weiterer, wichtiger Baustein auf dem Weg in den Job. Es bilde eine Brücke, wenn Regelmaßnahmen nicht richtig ineinander griffen.

Monika Schwenke in ihrem Büro.
Bildrechte: MDR/Maria Hendrischke

Die Lebensrealitäten der Migrantinnen passen oft nicht zu den Anforderungen des deutschen Arbeitsmarkt-Systems.

Monika Schwenke, Abteilungsleiterin Migration und Integration, Caritas Magdeburg

Kursteilnehmerin Seema stammt ursprünglich aus Afghanistan. Seit zwei Jahren lebt sie in Sachsen-Anhalt und hat sich Deutsch allein beigebracht – unter anderem mit Apps und der Hilfe einer deutschen Freundin. Denn für einen regulären Integrationskurs hat Seema nicht den richtigen Aufenthaltsstatus. Durch einen Flyer hat sie von "Blickpunkt: Migrantinnen" erfahren und lernt nun seit zwei Monaten im Kurs des EBG Deutsch.

Seema hat außerdem schon einen Job gefunden. Seit Ende Oktober arbeitet sie bei einem Pizza-Lieferservice, neben dem Deutschkurs. Vor der Einstellung habe ihr Chef gesagt, dass sie eine Krankenversicherung brauche. Diese habe sie auch abgeschlossen – und sich anschließend Sorgen gemacht. Denn sie habe das nicht vorab mit der Ausländerbehörde abgesprochen. "Ich hatte Angst, dass ich etwas falsch gemacht habe. In einem anderen Land ist man immer vorsichtig", erklärt sie. Die Beraterinnen von "Blickpunkt: Migrantinnen" hätten sie dann aber beruhigt.

Angebot derzeit auf Sachsen-Anhalt beschränkt

Laura, die aus Venezuela kommt, wohnt in Berlin und in Schönebeck. In Venezuela hat sie Rechnungswesen studiert – und es mit Hilfe der Projekt-Mitarbeiterinnen geschafft, dass ihr Abschluss zum Teil in Deutschland anerkannt worden ist. "Das waren gute Nachrichten", sagt Laura. Sie sucht nun eine Weiterbildung im Bereich Buchhaltung.

Laura nutzt den Online-Sprachkurs als Ergänzung zu einem Präsenz-Deutschkurs, den sie in Berlin macht. Ihr gefällt es, dass die Teilnehmerinnen im Online-Kurs selbst Themen vorschlagen dürfen. Außerdem werde geübt, einen Lebenslauf und Anschreiben zu schreiben, was beim Weg ins Berufsleben helfe. "Ich kann den Kurs auf jeden Fall empfehlen", sagt sie. Die Physiklehrerin Mojdeh hat Verwandten in Nordrhein-Westfalen vom Kurs erzählt. Die hätten gerne teilgenommen. Doch bisher ist das Angebot nur für Frauen offen, die in Sachsen-Anhalt wohnen.

Erfahrungen durch Pilotprojekt sammeln

Das Projekt "Blickpunkt: Migrantinnen" sei in seiner Konzeption und Herangehensweise in Deutschland bisher einmalig, sagt Schwenke. Das Ziel sei, mit dem Pilotprojekt verlässliche Erfahrungen mit dieser Art von Qualifizierungsangebot zu sammeln und letztlich mehr Migrantinnen in den Arbeitsmarkt Sachsen-Anhalts zu integrieren. "Blickpunkt: Migrantinnen" hat sein Angebot 2020 auf Magdeburg, Halle und die Börde konzentriert. 2021 sind laut der Caritas auch mobile Beratungen in Stendal und Dessau geplant. Darüber hinaus hätten auch andere Bundesländer schon Interesse an den Projekterfahrungen gezeigt, darunter Nordrhein-Westfalen, Bayern und Thüringen.

"Blickpunkt: Migrantinnen" in Zahlen

65 Frauen nehmen nach Angaben der Projektleitung derzeit an Qualifizierungskursen teil (Stand: 31.10.2020) – je nach persönlichen Kompetenzen und Bedürfnissen sehr unterschiedlich oft. Von Montag bis Freitag werden dreimal pro Tag Deutsch- bzw. Empowerment-Kurse angeboten. Im Durchschnitt nehmen an jeder Unterrichtseinheit etwa sieben Frauen teil.

Seit Jahresbeginn hat die Fach- und Servicestelle etwa 350 Beratungsgespräche geführt (Stand: 31.10.2020). Dabei handelt es sich auch um Folgeberatungen, es sind also nicht 350 verschiedene Frauen beraten worden. Drei der geförderten Frauen, darunter Seema, haben bereits eine erste Arbeitsstelle gefunden.

Das Sachsen-Anhalter Projekt will nicht nur Migrantinnen helfen, sich im deutschen Arbeitsmarkt-System zurechtzufinden – sondern auch die Politik für die Probleme bei der beruflichen Integration der Frauen sensibilisieren. Daher sei im September ein Landesbeirat zur Fach- und Servicestelle gegründet worden, berichtet Schwenke. Der Beirat solle fachpolitische Handlungsempfehlungen erarbeiten, wie Migrantinnen in Sachsen-Anhalt der Berufseinstieg erleichtert werden könne. Im Beirat arbeiten unter anderem Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitsagentur, Industrie- und Handelskammer Magdeburg, Handwerkskammer Halle sowie Migrantinnen zusammen. "Das lässt hoffen, dass wir es gemeinsam in Sachsen-Anhalt schaffen können, auch systemische Veränderungen zu erwirken", sagt Schwenke.

* Die Kursteilnehmerinnen treten auf ihren Wunsch hin im Beitrag nur mit ihren Vornamen auf. Manche sind in ihren Herkunftsländern verfolgt worden. Die vollen Namen sind der Redaktion bekannt.

Maria Hendrischke
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Über die Autorin Maria Hendrischke arbeitet seit Mai 2017 als Online-Redakteurin für MDR SACHSEN-ANHALT – in Halle und in Magdeburg. Ihre Schwerpunkte sind Nachrichten aus dem Süden Sachsen-Anhalts, Politik sowie Erklärstücke und Datenprojekte. Ihre erste Station in Sachsen-Anhalt war Magdeburg, wo sie ihren Journalistik-Bachelor machte. Darauf folgten Auslandssemester in Auckland und Lissabon sowie ein Masterstudium der Kommunikationsforschung mit Schwerpunkt Politik in Erfurt und Austin, Texas. Nach einem Volontariat in einer Online-Redaktion in Berlin ging es schließlich zurück nach Sachsen-Anhalt, dieses Mal aber in die Landeshauptstadt der Herzen – nach Halle. Ihr Lieblingsort in Sachsen-Anhalt sind die Klausberge an der Saale. Aber der Harz ist auch ein Traum, findet sie.

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