Halle-Attentat – Reportage zum dreizehnten Prozesstag Der Applaus muss draußen bleiben

16. September 2020, 19:07 Uhr

Der dreizehnte Verhandlungstag beginnt mit einer Diskussion um Applaus. Es sagen weitere Zeuginnen aus, die sich am 9. Oktober 2019 in der Synagoge befanden, und zum ersten Mal sitzen im Saal die Polizeibeamten, die sich mit dem Angeklagten auf der Ludwig-Wucherer-Straße den Schusswechsel lieferten.

Marie-Kristin Landes
Bildrechte: MDR/Martin Neuhoff

Richterinnen und Richter des Oberlangdesgerichtes Magdeburg.
Am dreizehnten Prozesstag sagen Zeugen des Attentats in der Synagoge und Polizeibeamte, die den Schusswechsel auf der Ludwig-Wucherer-Straße erlebt haben, aus. Bildrechte: imago images/Jan Huebner,Max Schörm

Ein Gerichtssaal ist eigentlich kein Ort an dem Applaus fällt. In diesem fiel er schon oft und wirkte – das ist ein ganz persönlicher Eindruck – nie deplatziert. Viel mehr drückte er großen Zuspruch für die starken, eindrücklichen und emotionalen Aussagen der Nebenklägerinnen und Nebenkläger aus. Bisher ließ die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens die Applaudierenden gewähren. Obwohl sie bereits anmerkte, dass Unterstützung auch anders gezeigt werden kann, beispielsweise in den Pausen. Applaus fiel trotzdem, bis heute.

Der dreizehnte Verhandlungstag beginnt nicht mit einer Zeugin, sondern einer Diskussion um den Applaus. Die Richterin merkt an, dass gestern entgegen ihrer Anordnung applaudiert wurde. "Ich bitte die Wachtmeister, darauf zu achten und mir diejenigen zu nennen, die applaudieren." Es gebe die Möglichkeit Ordnungsgelder zu verhängen, das würde sie tun. "Es gibt andere Möglichkeiten, den Zeuginnen und Zeugen beistehen", wiederholt sie und bittet, dass sich alle im Saal an ihre Anordnung halten. "Weil ich finde es eigentlich würdelos, dass ich hier im Saal zu solchen Mitteln greifen müsste."

Weitere Applausfragen

Erledigt ist die Angelegenheit damit nicht. Rechtsanwalt Alexander Hoffmann nimmt dazu Stellung: "Ich habe an keiner Stelle, an der applaudiert wurde, eine Störung empfunden. Es ist tiefstes Mitgefühl ausgedrückt worden über Applaus." Es müsse in einem Gerichtssaal Platz dafür geben, tiefster Ergriffenheit und Bewegung Raum zu geben. Sein Kollege Jan Siebenhüner sieht das anders. Er pflichtet der Richterin bei, sagt, die Strafprozessordnung sehe Applaus nicht vor. Er fragt, was wäre, wenn wäre wenn hier Unterstützer des Angeklagten sitzen würden und für ihn klatschten?

Wir wollen am Ende hier keine Marktplatzatmosphäre wie im Mittelalter. Wichtig ist, dass es hier neutral und fair abgeht.

Rechtsanwalt Jan Siebenhüner

Ein berechtigter Einwand. Allerdings auch einer, der beim besten Willen nicht zu vergleichen ist mit dem, was die Applaudierenden zum Ausdruck bringen, welches Zeichen sie setzen – auch in Richtung des Angeklagten. Es zeigt, dass die Mehrheit hier in diesem Saal sein Weltbild nicht teilt. Dass er mit seiner Tat nicht das erreicht hat was er wollte. Viel mehr noch, dass er damit nur mehr Geschlossenheit und Solidarität erreicht hat, zumindest unter einigen Anwesenden. Dies ist kein gewöhnlicher Prozess. Wäre es also nicht allein deshalb möglich, dem – zugegeben ungewöhnlichen – Applaus etwas Raum zu geben? Der Gedankengang wird unterbrochen von der Richterin, die sich auf keine weitere Diskussion einlässt und mit der Zeugenbefragung beginnt. Beendet ist die Applausfrage damit nicht.

Stiller Zuspruch

Die Applausfrage klärt sich dann quasi geräuschlos – nach der Aussage der ersten Zeugin. Auch sie war am 9. Oktober 2019 in der Synagoge. Auch sie richtet sehr persönliche Worte an das Gericht und alle anderen im Saal. Gibt tiefe Einblicke in die eigene Familiengeschichte. Auch sie stammt aus einer Familie Holocaustüberlebender. Sie erzählt, wie sie als Sechsjährige den 11. September 2001 erlebt hat. Ihr Vater arbeitete damals im New Yorker World Trade Center, überlebte offensichtlich nur knapp diesen Anschlag. Sie beschreibt, wie dieser Tag ihren Vater und der 9. Oktober 2019 dann sie verändert hat. Auch diese Zeugin hinterfragt die Ermittlungsarbeit des BKA, das Verbindungen zwischen anderen Attentaten wie Christchurch und Halle nicht gezogen hat. Das Fragen auf Kontakte des Angeklagten im Internet bisher nicht beantworten konnte. Die Tat einfach in keinen Kontext gestellt hat.

Aber wenn wir uns den Kontext nicht anschauen, wie können wir dann die Taten des Angeklagten genau verstehen und nachverfolgen? Wie können wir in Deutschland einen Präzedenzfall schaffen, der sich gegen derartige Aktionen und White Supremacy richtet?

Aussage der ersten Zeugin am 13. Prozesstag

Als sie endet, ergreift der Anwalt Alexander Hofmann das Wort: "Wir dürfen ja nach Anordnung der Vorsitzenden nicht applaudieren. Möchte ihnen meinen Respekt zeigen." Daraufhin stehen mehrere Anwälte, viele Nebenklägerinnen und Nebenkläger sowie Zuschauende auf. Das ist kein Applaus, so wie von der Vorsitzenden Richterin angeordnet. Das ist stiller, vielleicht sogar noch eindrücklicherer Zuspruch, den auch die nachfolgende Zeugin erhält.

1221 steht unter Beschuss

Mit stillem Zuspruch – geschweige denn Applaus – ist für die anderen vier Zeuginnen und Zeugen dieses Verhandlungstages nicht zu rechnen. Es sind drei Polizeibeamte und eine Polizeibeamtin, die am 9. Oktober 2019 im Einsatz waren. Zwei von Ihnen haben sich auch der Nebenklage angeschlossen. Unter ihnen diejenigen, die sich auf der Ludwig-Wucherer-Straße den Schusswechsel mit dem Angeklagten lieferten. Warum kein Zuspruch und Applaus? Weil nicht nur im Verlauf des bisherigen Prozesses, sondern bereits direkt nach dem Anschlag viel Kritik an der Arbeit der Polizei geübt wurde – und damit auch an ihnen. Heute werden sie quasi stellvertretend für alle damit direkt konfrontiert. 

Wie alle Zeuginnen und Zeugen, erzählen auch sie, wie der 9. Oktober 2019 verlief. Dass sie eigentlich mit ganz anderen Aufgaben betraut sind, als die ersten Funksprüche eintreffen. Die Funksprüche erreichen auch den Funkstreifenwagen 1221. Dieser ist eigentlich auf dem Weg in Richtung Halle-Neustadt und aufgrund des geplanten Einsatzes mit drei statt normal zwei Beamten besetzt. In ihrem Wagen befinden sich nur zwei Spezialausrüstungen, darunter eine Maschinenpistole. Die Kommissarin, die fährt, und ein Kollege legen sie an, beide Mitte 30. Der dritte Kollege, bereits um die 50, wechselt vom Beifahrersitz auf die Rückbank. Als sie in der Ludwig-Wucherer-Straße ankommen, stoßen sie direkt auf den Täter, der – während sie aussteigen wollen – das Feuer eröffnet. Sie sind es auch, die anschließend die erste Verfolgung aufnehmen.

Diese Abläufe sind das Ziel detaillierter Nachfragen der Nebenklage. Wie viele Schüssen wurden abgegeben und wie viele Schüsse gab es in ihre Richtung? Wo befand sich wer? Wie wurde miteinander kommuniziert? War der Täter die ganze Zeit in ihrem Blickfeld? Mehrfach wiederholen sie die Abläufe. Beschreiben das, was sie gesehen oder auch nur vermutet haben. Immer wieder machen sie auch deutlich: Für sie spielte es sich alles innerhalb von Sekunden ab. Was heute mit Abstand und Videoaufnahmen detailliert nachvollzogen werden kann und offensichtlich erscheint, sah aus ihrer Perspektive damals ganz anders aus.

Beamter unter Schock

Auch sie werden von der Richterin gefragt: Wie haben sie den 9. Oktober 2019 verarbeitet? Ihre Antworten offenbaren den Eindruck, den sie während ihrer Zeugenaussagen vermitteln. Während die beiden jüngeren Kollegen selbstsicher, gefasst und reflektiert wirken, ist ihr dritter älterer Kollege offensichtlich schwer mitgenommen. Seine Aussage ist nur schwer zu verstehen, stockend. Angesprochen auf die Frage wie er den Tag verarbeitet hat, antwortet er, dass er mittlerweile in den Innendienst versetzt wurde. Dienst auf der Straße – das kann er nicht mehr. Ihm wurde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Etwas, das – genauer hingesehen – leider absehbar war. Das zeigt sich in der Nachfrage des Rechtsanwalts Jan Siebenhüner. Er fragt die Kommissarin, diejenige die das Team im Wagen an diesem Tag leitet: "Wie waren die Kollegen gesundheitlich drauf, als sie sich dem Großeinsatz angeschlossen haben?" Mit dem Wort "fokussiert" beschreibt sie den 33-jährigen Beamten, der sich auch den Schusswechsel mit dem Attentäter liefert. Und der andere Kollege? "Er war in sich gekehrt." Siebenhüner hakt nach: "Könnte man sagen, er stand unter Schock?" Die Antwortet lautet: ja. 

In einer solchen Situation geschockt zu sein, ist menschlich. Wahrscheinlich wäre die Mehrheit im Gerichtssaal es auch gewesen. Aber die Mehrheit im Saal ist nicht bei der Polizei. Dass dieser Beamte bis heute mit dem Erlebten zu kämpfen hat, ist schlimm. Aber es stellt sich doch die Frage, ob wirklich alle Polizeibeamten in Sachsen-Anhalt gut genug auf so außergewöhnliche und extreme Ereignisse wie den Anschlag vom 9. Oktober 2019 vorbereitet sind. Nicht nur, um ruhig genug zu reagieren, sondern auch, um sich selbst zu schützen. Die anderen beiden Kollegen im Einsatzfahrzeug hatten eine zusätzliche Ausbildung absolviert, in der genau solche Situationen durchgespielt wurden. Dieser Kollege hatte sie noch nicht.

Marie-Kristin Landes
Bildrechte: MDR/Martin Neuhoff

Über die Autorin Marie-Kristin Landes ist in Dessau-Roßlau geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur zog es sie für ein Politikstudium erst nach Dresden, dann für den Master Journalistik nach Leipzig. Praktische Erfahrungen sammelte sie bei der Sächsischen Zeitung, dem ZDF-Auslandsstudio Wien und als freie Mitarbeiterin für das Onlineradio detektor.fm. Nach ihrem Volontariat beim Mitteldeutschen Rundfunk arbeitet sie jetzt vor allem für MDR Kultur und das Landesfunkhaus Sachsen-Anhalt. Wenn sie nicht gerade für den MDR unterwegs ist, ist sie am liebsten einfach draußen. Zwischen Meer oder Berge kann sie sich dabei genauso wenig wie zwischen Hund oder Katze entscheiden.

Quelle: MDR/mp,ap

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 16. September 2020 | 19:00 Uhr

6 Kommentare

Realist62 am 18.09.2020

Wo steht das was in den Zitat des Herrn Siebenhühner was von HEXENVERBRENNUNG? Ich les da von nichts. Ich schätze hier geht es um das ,,FEILSCHEN" um die beste Anerkennung bei den Medien. Die Anklage hat ja im Vorfeld angekündigt, daß sie dem Angeklagten nicht das Feld zu seiner Selbstdarstellung zu überlassen. Ja wenn man die Berichte des MDR Sachsen-Anhalt so liest, kann man das wohl so sehen.

Realist62 am 17.09.2020

Ja eine Gerichtsverhandlung ist eben keine politische Veranstaltung und kein Bühnenprogramm.
+Wir wollen am Ende hier keine Marktplatzatmosphäre wie im Mittelalter. Wichtig ist, dass es hier neutral und fair abgeht.
Rechtsanwalt Jan Siebenhüner+
Dem kann man nur zustimmen.

Realist62 am 17.09.2020

+Während die beiden jüngeren Kollegen selbstsicher, gefasst und reflektiert wirken, ist ihr dritter älterer Kollege offensichtlich schwer mitgenommen.+ vorher in diesen Beitrag +Die Kommissarin, ..., und ein Kollege ..., beide Mitte 30. Der dritte Kollege, bereits um die 50, +
Wie erklären Sie sich das @Harka2 . Ich schätze schon, daß man in Aschersleben die Menschen, die zur Polizei wollen und dort Dienst tuen gut auf solche Situation vorbereitet.
Okay, wenn dieser Anschlag der erste in dieser Art in langen Jahren der Dienstzeit ist, kann es wahrscheinlich zu dieser Reaktion des älteren Polizisten kommen.

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