Halle-Attentat – Reportage zum neunzehnten Prozesstag In hellem Aufruhr

04. November 2020, 20:56 Uhr

Eigentlich sollten an diesem 19. Prozesstag Imageboards und wie der Anschlag im Internet rezipiert wurde im Mittelpunkt stehen. Doch am Ende sorgte ein Antrag des Verteidigers Hans-Dieter Weber für Aufsehen. Dieser könnte dazu führen, dass auf den letzten Metern der Prozess platzt.

Marie-Kristin Landes
Bildrechte: MDR/Martin Neuhoff

Eigentlich war der Verhandlungstag fast vorbei. Die zwei geladenen Zeuginnen und Zeugen, ein BKA-Ermittler und Karolin Schwarz, eine Expertin für Rechtsextremismus, waren gehört wurden. Auf der Tagesordnung standen nur noch organisatorische Dinge, diverse Anträge wollte die Nebenklage noch stellen. Mehr aber auch nicht. Es sah nach einem relativ frühen Feierabend aus – im Vergleich zu anderen Prozesstagen, die wir bereits erlebt hatten.

Doch plötzlich war der gesamte Saal in hellem Aufruhr. Der Pflichtverteidiger des Angeklagten, der Karlsruher Rechtsanwalt Hans-Dieter Weber, stellte überraschend einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens nach §264 Abs. 3 der Strafprozessordnung.

§ 265 StPO

Vorausgegangen war ein Antrag, den wenige Minuten zuvor Rechtsanwalt Benjamin Derin verlesen hatte. Er und seine Kollegin Illil Friedmann vertreten den Somalier Aftax Ibrahim. Ihn hatte der Angeklagte auf seiner Flucht aus Halle angefahren und verletzt. Aftax Ibrahim, sein Begleiter und ein weitere Augenzeuge sind überzeugt, dass das Auto direkt auf ihn zu gehalten habe. Eine Aussage, die er vor Gericht im Zeugenstand wiederholte. Die Bundesanwaltschaft wertet dieses Ereignis in ihrer Anklageschrift als Verkehrsvergehen, wirft dem Angeklagten fahrlässige Körperverletzung vor.

Friedmann und Derin geht das aber nicht weit genug. Sie wollen, dass das Anfahren ihres Mandanten als Mordversuch gewertet wird. Auch, weil der Angeklagte im Prozess bereits erklärt hatte, dass er die Hautfarbe der Personen, Aftax Ibrahim in Begleitung eines Freundes, auf dem Gehsteig erkannt habe. Darüber hinaus hatte er gesagt, dass er für eine weiße Person ausgewichen wäre. 

Die Bundesanwaltschaft reagierte auf diesen Antrag auffällig kühl und kurz. Nahm lediglich “ablehnend“ Stellung dazu und erklärte, dass sich nichts geänderte habe durch die Beweisaufnahme im Prozess. Pflichtverteidiger Weber witterte im Antrag von Derin und Friedmann trotzdem eine Chance. Er beantragte überraschend eine Pause zur Besprechung mit seinem Mandanten.

"Das ist der Moment, in dem der Prozess gleich platzen kann."

Niemandem der anwesenden Journalistinnen und Journalisten sowie Zuschauenden war in diesem Moment klar warum – bis sich der Anwalt Jan Siebenhüner an uns auf den Plätzen wandte: "Das ist der Moment, in dem der Prozess gleich platzen kann."

Siebenhüner erklärte, dass die Verteidigung seiner Ansicht nach sehr sicher einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens nach § 265 Abs. 3 StPO "Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes oder der Sachlage" stellen wird und so im schlimmsten Fall der Prozess von vorn beginnen wird.

Andere Vertreterinnen und Vertreter der Nebenklage wie Kati Lang schalteten sich ein, widersprachen Siebenhüner. Eine Diskussion entfachte. Der ganze Saal war in Aufruhr. Alle redeten laut durcheinander, sprachen sich mit ihren Redaktionen ab und warteten darauf, dass die Pause und damit auch die Besprechung zwischen dem Angeklagten und seinen zwei Verteidigern endlich vorbei war.

Entscheidung fällt am 17. November

Es kam wie von Siebenhüner beschworen: die Verteidigung stellte den Antrag zur Aussetzung des Verfahrens beziehungsweise mindestens einer Unterbrechung von drei Wochen. Ein Moment, in dem alle Anwesenden auf unserer Seite, der Seite der Zuschauenden, sicherlich das Gleiche dachten. Entschieden ist damit aber nichts. Die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens erklärte, dass bis zum 16. November die Nebenklage und auch die Verteidigung nun Zeit habe, ausführlich Stellung zu nehmen. Am 17. November würde dann die Entscheidung fallen. Allerdings schickte sie direkt hinterher, dass nach ihrer Erfahrung ein Aussetzen des Verfahrens in diesem Fall nicht in Betracht kommt. Das sehen viele Vertreterinnen und Vertreter der Nebenklage ähnlich. Etwas, das vielen und auch uns die Hoffnung gibt, dass dieser Prozess doch noch im Dezember zum Abschluss kommt.

Eigentlich lief mit den heutigen Zeugenaussagen alles auf die Zielgerade hinaus. Wobei erneut das Bundeskriminalamt nicht allzu gut weg kam. Denn bevor sich die Ereignisse mit dem Antrag der Verteidigung im Saal überschlugen, hatte die Sachverständige Karolin Schwarz gezeigt, dass mal wieder Experten bessere Ermittlungsarbeit in Sachen Internet und Imageboards leisten als das BKA.

Besser als das BKA

Karolin Schwarz war auf Initiative der Nebenklage geladen worden. Sie ist Journalistin und Mitgründerin der Hoaxmap, eine Webseite, die Falschmeldungen über Geflüchtete aufzeigt. Sie ist Expertin für Rechtsextremismus im Internet, hat das Buch "Hasskrieger – Rechte Radikalisierung in sozialen Netzwerken" geschrieben und forscht derzeit am Institut für Demokratie und Zivilgeschafft (IDZ) in Jena. Vor allem aber hat sie etwas getan, was die Ermittlerinnen und Ermittler des Bundeskriminalamts verschlafen haben. 

Bereits am 9. Oktober 2019 und nicht erst Wochen später hat sie sich mit einem Kollegen auf die einschlägige Imageboards Kohlchan, 4chan und Meguca begeben. Das sind Foren in denen anonym kommentiert, Bilder und Videos zu allen möglichen Themen geteilt werden können. Foren, die vor allem aber bekannt dafür sind, dass sich dort rechtsextremistische Gruppen, Rassisten und Antisemiten tummeln. Kurz nach der ersten Eilmeldung über Schüsse an der Synagoge in Halle habe Schwarz erste Fotos kursieren sehen.

"Weil ich mich im Zuge der Recherche für das Buch mit Anschlägen wie Christchurch beschäftigt habe, habe ich direkt vermutet, dass es ein Anschlag ist und habe mich auf einschlägige, vor allem deutschsprachige Plattformen begeben", sagte Schwarz. Sie verfolgte nicht nur, wie der Anschlag auf einschlägigen Imageboards und Gruppen des Nachrichtendienstes Telegram geteilt und kommentiert wird, sie sicherte auch alles, machte Screenshots und analysierte den Inhalt.

Etwas, das eher Aufgabe des Bundeskriminalamtes gewesen wäre, bemerkt auch Nebenklagevertreter David Benjamin Herrmann: "Das hätten wir eigentlich alle vom BKA erwartet. Aber sei es wie es sei." Im Verlauf der Ermittlungen hatte sich ein Beamter zwar angesehen wie der Anschlag auf Imageboards rezipiert wird, auch einen Aktenvermerk dazu geschrieben, aber keine Belege gesichert. Warum? Weil es nicht seine Aufgabe gewesen sei, wie der Beamte am siebten Prozesstag auf Nachfrage erklärte. 

Spott statt Ehre

Anders als bei den Ergebnissen des BKA hat der Angeklagte bei dem, was Karolin Schwarz heute präsentiert, nichts zu lachen. Kein Feixen ist zu erkennen. Selten schaut er zu ihr. Die meiste Zeit geht sein Blick zum Monitor an seinem Platz, auf dem eine Präsentation mit einigen Screenshots gezeigt wird, die die Sachverständige angefertigt hat. Auch wenn keine Reaktion zu sehen ist: Was sie erzählt und zeigt, wird ihn sicherlich verärgert haben. Bewusst hatte der Angeklagte sein Tatvideo live gestreamt – um andere zum Nachahmen zu animieren und für Aufmerksamkeit. In einschlägigen Foren werden Attentäter wie der von Christchurch, eines der Vorbilder des Halle-Attentäters, als Heilige, als "Saints" dargestellt. Doch statt "Ruhm und Ehre" erntete er auf den von Karolin Schwarz untersuchten Boards vor allem Spott und Häme. 

Bereits gegen 13:07 Uhr haben die Sachverständige am 9. Oktober 2019 auf Kohlchan den ersten Post zum Attentat gefunden. Zu diesem Zeitpunkt noch mit allgemeinen Informationen aus der normalen Medienberichterstattung. Die anonymen Nutzer und Nutzerinnen, die auf Kohlchan alle hinter dem Namen "Bernd" versteckt sind, mutmaßen, wer dahinter stecken könnte. Sie hoffen auf einen deutschen Täter, der Juden und Muslimen trifft. Doch je mehr Informationen über das Attentat bekannt werden, desto stärker ändert sich der Inhalt der Kommentare.

Weil der Angeklagte sein Ziel verfehlt, fangen sie an, sich über ihn lustig machen. Sie bezeichnen ihn als Versager, erklären, dass die Attentäter von Oslo und Christchurch über ihn lachen würden und teilen Memes mit Bildern des Attentäters aus seinem eigenen Livestream, den sie mit ihrer Ansicht nach witzigen Texten versehen. Ähnlich ist es auf 4chan und Meguca. In einschlägigen Telegramgruppen bemerkt Schwarz vor allem, wie mehrfach das Video des Livestream oder Teile davon geteilt werden.

Detailliert ging die Sachverständige in ihren Ausführungen auf die Funktionsweise der Boards, wie darauf kommuniziert wird, ein. Teile des Gerichts machen dabei den Eindruck, dass sie nur bedingt verstehen was Schwarz erklärt und auch, als seien sie nur bedingt daran interessiert – anders als viele Vertreterinnen und Vertreter der Nebenklage.

Sie machen mit ihren Nachfragen deutlich worauf sie hinaus wollen, warum vor allem Anwältin Kristin Pietrzyk angeregt hatte, Schwarz zu laden. Auf diesen Imageboards wird extrem menschenfeindliches Gedankengut geteilt, Gewalt befürwortet, Attentäter verehrt und zu weiteren Taten aufgerufen. Auf diesen Boards war auch der Angeklagte lange vor seiner Tat aktiv. Er hat mitgelesen, wahrscheinlich auch kommentiert. Wer eine weitere Tat wie diese verhindern will, muss verstehen, wie die Gemeinschaften auf diesen Imageboards funktionieren. Wie Attentäter sie gezielt nutzen, um andere zum Nachahmen zu animieren oder zumindest die eigene Tat zu verbreiten. Und das hat der Angeklagte geschafft. Über seine Tat wurde ausgiebig gesprochen und sein Video mehrfach geteilt. 

Hintergrund des Gerichtsverfahrens

Seit Juli läuft vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess um den Anschlag auf die Synagoge von Halle. Aus Platzgründen wird der Prozess aber in den Räumen des Landgerichts in Magdeburg geführt. Dort steht der größte Gerichtssaal Sachsen-Anhalts zur Verfügung.

Der 28-jährige Stephan B. hatte gestanden, am 9. Oktober 2019 schwer bewaffnet versucht zu haben, die Synagoge von Halle zu stürmen und ein Massaker anzurichten. Darin feierten gerade 52 Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Der Attentäter scheiterte jedoch an der Tür, erschoss daraufhin eine Passantin, die zufällig an der Synagoge vorbei kam, und später einen jungen Mann in einem Döner-Imbiss.

Stephan B. ist wegen zweifachen Mordes, versuchten Mordes in 68 Fällen, versuchter räuberische Erpressung mit Todesfolge, gefährlicher Körperverletzung, fahrlässiger Körperverletzung und Volksverhetzung angeklagt.

Marie-Kristin Landes
Bildrechte: MDR/Martin Neuhoff

Über die Autorin Marie-Kristin Landes ist in Dessau-Roßlau geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur zog es sie für ein Politikstudium erst nach Dresden, dann für den Master Journalistik nach Leipzig. Praktische Erfahrungen sammelte sie bei der Sächsischen Zeitung, dem ZDF-Auslandsstudio Wien und als freie Mitarbeiterin für das Onlineradio detektor.fm. Nach ihrem Volontariat beim Mitteldeutschen Rundfunk arbeitet sie jetzt vor allem für MDR Kultur und das Landesfunkhaus Sachsen-Anhalt. Wenn sie nicht gerade für den MDR unterwegs ist, ist sie am liebsten einfach draußen. Zwischen Meer oder Berge kann sie sich dabei genauso wenig wie zwischen Hund oder Katze entscheiden.

Quelle: MDR/agz,mx

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT | 04. November 2020 | 12:00 Uhr

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