#MDRklärt Unterbeschäftigung: Auf der Suche nach den wirklichen Arbeitslosenzahlen
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Jeden Monat veröffentlicht die Arbeitsagentur Zahlen zur Arbeitslosigkeit. Aber wer gilt als arbeitslos? Und was ist eigentlich Unterbeschäftigung? MDR SACHSEN-ANHALT erklärt, wer nicht in dieser Statistik auftaucht. Teil 3 der Serie zum Arbeitsmarkt in Sachsen-Anhalt.
Auf der Suche nach den echten Arbeitslosenzahlen: Jeden Monat veröffentlicht die Arbeitsagentur aktuelle Zahlen darüber, wie viele Menschen zurzeit ohne Arbeit sind. So einfach, so klar. Die Frage, wer als arbeitslos gilt, scheint sehr leicht zu beantworten sein: Diejenigen, die eben keine Arbeit haben.
Bei genauerem Hinsehen ist diese Frage jedoch nicht so einfach zu beantworten. Gilt man auch als arbeitslos, wenn man nicht Vollzeit arbeitet? Was ist, wenn ich in der Ausbildung bin? Was ist, wenn ich arbeitslos bin, aber nicht arbeitssuchend gemeldet? Was ist, wenn ich Ein-Euro-Jobber bin?
Politik mit Arbeitslosenzahlen
Regelmäßig berichten die Medien am Ende eines Monats über die Arbeitslosenzahlen. Warum? Weil die Arbeitslosenzahl und die daraus errechnete Arbeitslosenquote als Maßstab für die Situation auf dem Arbeitsmarkt und für die Wirtschaft gesehen wird.
Das heißt konkret: Gibt es mehr Menschen, die Arbeit suchen, als Arbeit vorhanden ist? Von der Antwort hängt viel ab: Beispielsweise, wie es den Menschen in einer Region wirtschaftlich geht, ob sie arm sind und von ihrer Arbeit leben können, ob genügend Steuern für öffentliche Aufgaben zur Verfügung stehen und ob genügend Mittel wie Arbeitslosengeld und Rente vorhanden sind.
Und auch, weil Politiker mit den Arbeitslosenzahlen Politik machen. Ein Sinken der Arbeitslosenzahlen wird als Erfolg der jeweiligen Regierungsparteien gewertet, ein Anstieg dementsprechend als Misserfolg. Auch Kristian Veil von der Arbeitsagentur Regionaldirektion Sachsen-Anhalt-Thüringen erklärte MDR SACHSEN-ANHALT: "Das ist eine politische Frage. Es gab ja historisch gesehen viele Änderungen, wer als arbeitslos zählt und wer als unterbeschäftigt." Die Arbeitsagentur folgt dabei dem jeweils geltenden gesetzlichen Auftrag.
Manche Gruppen tauchen in den Arbeitslosenzahlen nicht auf
In die offiziellen Arbeitslosenzahlen werden bestimmte Gruppen nicht mit hineingerechnet: Menschen über 58 Jahre, die 12 Monate lang kein Jobangebot bekommen haben, Kurzarbeitende, Ein-Euro-Jobber und viele mehr. Über die Jahre hinweg haben die unterschiedlichen Regierungen, geführt von CDU wie SPD, immer wieder Personengruppen aus den Arbeitslosenzahlen herausgenommen. Einige schließen daraus: um die Zahlen etwa zu Bundestagswahlen niedrig erscheinen zu lassen.
Verschwiegen werden die Zahlen jedoch nicht. Sie werden durchaus veröffentlicht, man muss nur unter den richtigen Begriffen suchen: In diesem Fall unter "Unterbeschäftigung".
Was Unterbeschäftigung heißt
Unter diesem Begriff werden, laut Arbeitsagentur, zusätzlich zu den Arbeitslosen auch die Menschen erfasst, die nicht als arbeitslos im Sinne des Sozialgesetzbuches (Arbeitslose nach § 16 SGB III) gelten, weil sie zum Beispiel Teilnehmer an einer Maßnahme der Arbeitsförderung oder kurzfristig erkrankt sind. Darunter zählen:
- Arbeitslose im weiteren Sinn (Menschen in Aktivierung und berufliche Eingliederung Sonderregelungen für Ältere – 58er-Regel nach § 53a Abs. 2 SGB II)
- Unterbeschäftigte im engeren Sinn (Teilnehmende an Qualifizierungsmaßnahmen; beschäftigte am 2. Arbeitsmarkt; Arbeitsgelegenheiten wie Ein-Euro-Jobs; Fremdförderungen wie Reha-Kurse, Sprachkurse, Integrationskurse; vorruhestandsähnliche Regelungen; krankgeschrieben Arbeitslose)
- Unterbeschäftigte fern der Arbeitslosigkeit (nach Konzept der Arbeitsagentur): Personen in Kurzarbeit, Altersteilzeit und geförderter Selbstständigkeit wie Gründungszuschuss oder Einstiegsgeld
Wer alles genau zu den einzelnen Kategorien gehört, ist in der folgenden Galerie beschrieben.
Unterbeschäftigung in Zahlen
In Zahlen heißt das: Deutschlandweit waren im Juli 2020 knapp drei Millionen Menschen arbeitslos und 750.000 unterbeschäftigt. Wegen der besonderen Corona-Maßnahmen wird in diesem Fall die Kurzarbeit nicht mit hineingerechnet. Denn allein im April 2020 ist hochgerechnet für mehr als acht Millionen Menschen Kurzarbeit angezeigt, also beantragt worden.
Ohne die Kurzarbeit einzurechnen, die normalerweise auch eine Rolle in der Unterbeschäftigung spielt, waren im Juli 2020 also insgesamt 3.604.106 Menschen arbeitslos und unterbeschäftigt – davon sind 80 Prozent arbeitslos nach SGB III und 20 Prozent unterbeschäftigt. In Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen verteilen sich die Anteile ähnlich.
Wie sich die Kurzarbeit in Sachsen-Anhalt während der Corona-Krise entwickelt hat, können Sie in der interaktiven Grafik nachvollziehen und hier nachlesen.
Unterbeschäftigung zeigt Konjunktureinflüsse besser
Laut Arbeitsagentur werden mit dem Konzept der Unterbeschäftigung deswegen zwei Ziele verfolgt: Zum einen werde so ein möglichst umfassendes Bild vom Fehlen an Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt gegeben. Und: Realwirtschaftliche, insbesondere konjunkturell bedingte Einflüsse könnten mit den Zahlen der Unterbeschäftigung besser erkannt werden.
Für Kristian Veil von der Arbeitsagentur sind daher die Vorwürfe, sie würden die Zahlen fälschen, ärgerlich. Er sagte: "Was uns unglücklich macht, ist der Vorwurf, wir würden die Statistik fälschen. Das stimmt nicht. Das machen wir nicht. Das Problem ist, dass manch einer glaubt, eine Gruppe würde hinten runter fallen. Aber deswegen weisen wir die Zahlen der Arbeitslosen in der Unterbeschäftigung aus."
Über den Autor Martin Paul ist Teil des Online-Teams von MDR SACHSEN-ANHALT und begeistert von den Möglichkeiten und Ausdrucksformen des digitalen Journalismus - Daten und Code, Visualisierung und Video, Longread und Ticker, Social-Media und Dialog. Was ihn umtreibt? Besonders die Frage, wie man das Netz frei und offen gestalten und Teilhabe garantieren kann.
Quelle: MDR/mp
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 30. Juli 2020 | 13:00 Uhr
ralf meier vor 23 Wochen
Hallo MDR: Ich kritisiere explizit, das 8 Millionen Kurzarbeiter nicht in die Kurzarbeit hineingerechnet werden und man stattdessen die frohe Botschaft vernimmt: 'Der Arbeitsmarkt hat sich im vergangenen Monat stabilisiert, die Arbeitslosigkeit stieg nur leicht'
Was ist daran nicht nachvollziehbar ?
mfg: ralf meier
Bernd1951 vor 23 Wochen
Erst einmal möchte ich mich bei Herrn Martin Paul für diesen m. E. sehr gut recherchierten und tiefgründigen Beitrag bedanken. So sieht für mich Journalismus im ÖR aus. Damit wird der mdr seinem Bildungs- und Informationsauftrag mehr als gerecht. Warum gibt es nicht mehr solcher qualifizierten Beiträge oder sind sie nur in den Tiefen des mdr-Netzes gut versteckt ?
Das charakteristische der Ermittlung der Arbeitslosenzahlen ist der Umstand, dass die amtierende Regierung die Kriterien für die Zählweise ändern kann und sich nach einiger Zeit über die dadurch gesunkenen Arbeitslosenzahlen freuen kann. Und nicht nur die Eingeweihten wissen das und freuen sich jedes Mal über das Echo auf diese Zahlen.
MDR-Team vor 23 Wochen
Ihr Vorwurf ist nicht nachvollziehbar. Der von Ihnen zitierte Artikel vergleicht die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen in diesem mit den vergangenen Jahren. Zudem ist geschrieben, dass die Zahl der Kurzarbeit bei Veröffentlichung des Artikels nur bis Mai bekannt war. Der hier vorliegende Artikel erklärt die Zusammensetzung der Arbeitslosenzahlen. Beide verweisen auf gleiche Arbeitslosenzahlen.