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Telefonseelsorge in der Corona-KriseGemeinsam auf der Kellertreppe

13. Januar 2021, 15:50 Uhr

Seit Beginn der Corona-Pandemie rufen viel mehr Menschen bei der Telefonseelsorge in Magdeburg an. Manche sind ängstlich, andere verzweifelt. Alle suchen jemanden, der zuhört. Ein Gespräch über Einsamkeit und Mitgefühl.

Mit Zahlen kann Anette Carstens den bundesweiten Trend zwar nicht belegen. "Wir können uns das hier nicht leisten, einen eigenen Statistiker zu haben, der das alles auswertet", sagt die Leiterin der Telefonseelsorge Magdeburg. Doch die Eindrücke der vergangenen Monaten trügen sie wohl nicht: "Seit Beginn der Corona-Pandemie rufen die Menschen verstärkt bei uns an."

Viele sind einsam, im Lockdown erst recht. Am Telefon erzählen sie anonym von Krankheiten, Familiendramen oder dem Tod. Und die Ehrenamtlichen hören zu.

Was hören Menschen als Erstes, wenn sie bei der Telefonseelsorge anrufen?

Carstens: "Gute Frage. Ich bin ja immer auf der anderen Seite (lacht)."

Seit fünf Jahren als Leiterin der Telefonseelsorge, um genau zu sein. Eigentlich ist sie Pfarrerin, 61 Jahre alt und erfahren im Zuhören. 30 Jahre lang macht sie das schon. Carstens hat unter anderem als Seelsorgerin im Krankenhaus gearbeitet. Sie sagt, es tue Menschen immer gut, belastende Dinge auszusprechen.

Carstens: "Als Erstes hören die Anrufer möglicherweise, dass sie warten müssen. Das könnte passieren. Aber dann hören sie: 'Guten Tag, hier ist die Telefonseelsorge. Was haben Sie auf dem Herzen? Ich höre Ihnen zu.'"

59 Frauen und elf Männer hören bei der Telefonseelsorge Magdeburg zu. Ehrenamtlich. Ein Jahr lang wurden sie dafür ausgebildet. Sie haben die verschiedensten Jobs, sind jung, alt, mitten im Berufsleben oder im Ruhestand. Was alle eint: die Dankbarkeit für ihr eigenes, gutes Leben – und der Wille zu helfen. Jeder von ihnen hängt dreimal im Monat für vier Stunden am Telefon. So ist die Seelsorge rund um die Uhr besetzt. Probleme halten sich nicht an Schichtzeiten.

Über 3.000 Anrufe pro Tag

Deutschlandweit haben die Telefonseelsorgen in den Lockdown-Phasen einen erheblichen Zuwachs verzeichnet.

Vor der Pandemie gab es im Durchschnitt täglich 2.500 Telefonate. Im März und April stieg die Anzahl der Gespräche auf über 3.000 pro Tag an.

Seit Beginn des zweiten Lockdowns im November steigt die Zahl der Anrufe und Chats wieder an.

"Zu bestimmten Tageszeiten war das Gesprächsaufkommen fast 50 Prozent höher als vor der Pandemie", teilten die Bundeskonferenzen der katholischen und der evangelischen Telefonseelsorge im Dezember mit.

Mit nach eigenen Angaben mehr als 7.500 geschulten Ehrenamtlichen in 104 Städten und Regionen ist die von den beiden Kirchen getragene Telefonseelsorge deutschlandweit tätig.

Arbeiten die Seelsorger und Seelsorgerinnen aktuell auch im Homeoffice?

Carstens: "Nein. Wir haben einen Raum, von dem aus sie telefonieren. Und es sagen alle, dass das für sie sehr wichtig ist, aus ihrem Umfeld heraus- und in die Rolle als Telefonseelsorger hineinzutreten, sich wirklich auf den Anruf zu konzentrieren. Das ist auch ein wichtiger Bestandteil, um nicht alles mit nach Hause zu nehmen."

Ehrlich zuhören, dann den Hörer auflegen und die Probleme der Anrufenden abhaken, ehe das Telefon wieder klingelt – es ist eine Aufgabe, die viel von einem verlangt.

Carstens: "Ich glaube, das ist das Schwerste: sich zu öffnen für das Belastende, was ein anderer Mensch trägt. Normalerweise ist der Reflex ja, wenn jemand etwas schweres auspackt, erstmal zuzumachen, um sich zu schützen. Aber als Seelsorger musst du dich öffnen. Wir nutzen in der Ausbildung immer ein Bild: Du musst dich mit auf die dreckige Kellertreppe setzen, auf der der andere gerade sitzt. Das bedeutet: Du musst bereit sein, tatsächlich in die schwierige und umtreibende Situation reinzugucken, die ein anderer gerade aushält."

Wie bewältigen die Seelsorger und Seelsorgerinnen all das Leid, von dem sie hören?

Carstens: "Man lernt, das nach und nach ein Stück zu trennen, offen zu sein, aber trotzdem ein Stück Schutz zu behalten. Denn das ein oder andere Telefonat liegt einem manchmal dann eben doch schwerer auf der Seele. Da denkt man nochmal drüber nach, was man hätte anders machen können, müssen, sollen."

Für solche Momente gibt es die sogenannte Supervision. In der Gruppe bespricht das Team der Telefonseelsorge dabei regelmäßig solche Fälle. Wegen der Corona-Pandemie aktuell per Zoom und nicht vor Ort.

Die Grundsätze der Telefonseelsorge

  • Die Nummer der Anrufenden erscheint nicht auf dem Display der Telefonseelsorge. Sie bleiben anonym.
  • Ein Anruf bei der Telefonseelsorge ist gebührenfrei.
  • Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr erreichbar.

Haben sich die Sorgen und Nöte der Menschen in der Corona-Krise verändert?

Carstens: "Im März war das sehr deutlich, dass eine sehr große Angst in der Luft lag. Wir haben eine Strichliste geführt und in jedem Dienst gab es mindestens viermal einen Anruf, bei dem es eindeutig um Corona ging. Im Augenblick ist das anders. Viele Menschen haben den Eindruck, zu wissen, wie sie mit der Situation umgehen müssen. In vielen Telefonaten, in denen es um ein anderes Problem wie um Krankheit oder Familienkrisen geht, wird Corona aber am Rande erwähnt. Es ist nicht der Auslöser, um anzurufen, aber man merkt, dass solche schweren Themen durch Corona nochmal eine Spur schwerer auszuhalten sind."

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Gibt es einen Anruf, der Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?

Carstens: "Seelsorge muss in jedem Fall geschützt sein, also kann ich hier gar nicht einfach einen Fall erzählen. Aber generell bewegen mich Menschen sehr, die so ganz alleine sind mit einer richtig schlimmen Situation. Dieses Gefühl, so abgeschnitten zu sein von allen und gar keine Verwandte oder Bekannte zu haben, das rührt mich immer wieder. Ich bin manchmal erschrocken, wie wenig wir in dieser Gesellschaft voneinander Notiz nehmen und merken, was nebenan passiert. Uns fehlt der Blick für Menschen, die alleine sind."

Kontaktbeschränkungen. Zwei Haushalte. Social Distancing. Schlagworte als Symbole der Einsamkeit.

Carstens: "Bei uns rufen viele psychisch Kranke an, die sehr alleine sind. Gerade durch die Situation im Lockdown. Viele haben sich einen Rhythmus erarbeitet, damit die Einsamkeit nicht so stark ins Gewicht fällt. Sie gehen ins Café, gehen in den Tanzclub, gehen zur Sportgruppe. Und das geht jetzt alles nicht. Das ist für manche Menschen eine viel größerere Last als zum Beispiel für mich, die ich mit einem Partner zusammenlebe und weiß, dass ich erzählen kann, wenn ich nach Hause komme. Wir haben das während des ersten Lockdowns deutlich gemerkt, dass mehr Anrufe kamen, auch jetzt an Weihnachten."

Die meisten Hilfesuchenden seien zwischen 50 und 70 Jahren alt, erzählt die Seelsorgerin. Aber Studenten seien ebenso dabei. Bei der Mail- und Chatberatung würden sich ohnehin eher jüngere Menschen melden.

Stellen Sie sich ein Gesicht zu dem Anrufer oder der Anruferin vor?

Carstens: "Ein Gesicht nicht. Aber die Situation wird sehr lebendig, wenn man das alles hört – mehr sogar, als wenn ich einem Menschen gegenübersitze. Das innere Bild ist stärker als in der direkten Begegnung, weil ich mir alles vorstelle, was der Anrufer erzählt."

Was hören Menschen am Ende eines Gesprächs bei der Telefonseelsorge?

Carstens: "Ich sage zum Ende gerne: 'Ich wünsche Ihnen viel Kraft für das, was sie gerade aushalten.' Denn das, was wir aushalten, sieht häufig niemand – und das macht sehr einsam. Zum Glück gibt es unsere Nummer, bei der die Menschen anrufen können."

Kontakt zur Telefonseelsorge

Sie haben Selbsttötungsgedanken oder eine persönliche Krise? Die Telefonseelsorge hilft Ihnen rund um die Uhr unter: 0800/1110111 und 0800/1110222. Der Anruf ist anonym und taucht nicht im Einzelverbindungsnachweis auf.

Im Internet ist die Telefonseelsorge über Web-Mails und im Chat unter "www.telefonseelsorge.org" erreichbar. Auf der Website finden Sie weitere Hilfsangebote.

Das Info-Telefon Depression erreichen Sie unter 0800 / 33 44 533, an folgenden Tagen: Montag, Dienstag und Donnerstag von 13:00 bis 17:00 Uhr sowie Miittwoch und Freitag von 08:30 bis 12:30 Uhr.

Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Über den AutorDaniel George wurde 1992 in Magdeburg geboren. Nach dem Studium Journalistik und Medienmanagement zog es ihn erst nach Dessau und später nach Halle. Dort arbeitete er für die Mitteldeutsche Zeitung.

Vom Internet und den neuen Möglichkeiten darin ist er fasziniert. Deshalb zog es ihn im April 2017 zurück in seine Heimatstadt, in der er bei MDR SACHSEN-ANHALT seitdem als Sport-, Social-Media- und Politik-Redakteur arbeitet, immer auf der Suche nach guten Geschichten, immer im Austausch mit unseren Nutzern.

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Quelle: MDR/dg

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 13. Januar 2021 | 19:00 Uhr

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