Coronafolgen: Kulturszene in Sachsen-Anhalt Warum wir den Verlust in der Kulturszene verhindern müssen

01. Juni 2020, 18:20 Uhr

Der Kulturszene in Magdeburg droht der Verlust ihrer Vielfalt. Zahlreiche freie Kulturschaffende und Institutionen kämpfen um ihre Existenz. Bei vielen Hilfsprogrammen fallen sie durchs Raster. Warum wir uns dafür stark machen müssen, sie zu schützen. Ein Kommentar.

Leonard Schubert
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Wenn einem Lachtränen über die Wangen rollen, man zwischen grandioser Lichttechnik und spitzen Bands und DJs auf Festivals die Nacht durchtanzt, wenn man nachdenklich aus einer Lesung läuft, berührt von einem Chorkonzert und beeindruckt von einer Ausstellung ist, dann stellt sie sich normalerweise nicht die Frage, ob die Kulturszene systemrelevant ist.

Wir haben in Deutschland den Luxus, dass ein riesiges kulturelles Angebot scheinbar selbstverständlich verfügbar ist. Doch dieser Luxus ist alles andere als gesichert.

Existenznöte bei Kulturschaffenden

Während die Corona-Krise viele Branchen und Menschen schwer getroffen hat und viele mit finanziellen Nöten zu kämpfen haben, hat es die Kulturszene besonders hart erwischt. Während die laufenden Kosten für viele sehr hoch sind und Alternativjobs oft schwer realisierbar, sind die Einnahmen für viele um nahezu 100 Prozent weggefallen. Besonders die selbstständigen, freien Künstler, die normalerweise von ihrem täglichen Publikum leben, davon, auf Festivals und Veranstaltungen aufzutreten oder auszustellen, kämpfen um ihre Existenz. Bei den finanziellen Hilfspaketen fallen sie oft durchs Raster, weil sie keine Betriebskosten oder Verdienstausfälle anmelden können. Viele kämpfen. Trotz Nebenjobs, kreativen Alternativen und größten Anstrengungen.

Neben dem finanziellen Druck ist es für viele eine große psychische Belastung, nicht auftreten zu können und zu dürfen. Kulturschaffende haben oft kein klassisch-geregeltes Leben. Sie leben häufig von und für die Interaktion mit Menschen, treffen auf ihren Reisen und bei ihren Auftritten ihre Freunde, leben dafür, Menschen etwas mitzugeben. Einen Gedanken, ein Gefühl, einen Impuls, einen unbeschwerten Abend, einen Lacher. Sie schaffen Räume des Dialogs, starten Kritik an Missständen, bringen Menschen zusammen. Sie sind ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Rückgrats.

Städte und Kommunen wissen das. Nicht umsonst wirbt Magdeburg um den Titel als Kulturhauptstadt, nicht umsonst findet man Kulturangebote in Touristenbroschüren oder in den Erzählungen am Küchentisch. Doch reicht dieses Wissen, um die Kulturbranche in der Krise genug zu schützen?

Was ist Kultur wert?

Vor dem Pfingstwochenende haben freie Kulturschaffende vor dem Magdeburger Landtag für finanzielle Unterstützung und eine Wertschätzung der Kulturszene demonstriert. Auch eine Anpassung der Hilfsmaßnahmen wurde diskutiert. Für einige gehe es um die Existenz, sagte Lars Johansen, Magdeburger Kabarettist, auf der Demonstration.

Die Reaktionen auf die Proteste der Kulturschaffenden sind gespalten. Während viele Menschen ihre Unterstützung ausdrücken und versuchen, die lokale Szene durch Hilfsaktionen zu stärken, reagieren andere mit Missgunst auf die Hilferufe. Die Leute hätten halt sparen sollen und etwas Ordentliches lernen, heißt es da etwa in den Kommentaren. Diese Häme ist unangebracht.

Wer spottend auf die kämpfenden Menschen herunterblickt und überzeugt ist, deren Arbeit sei nicht wichtig, sollte sich fragen, was der Verlust der Vielfalt der Kulturszene bedeuten würde. Wie Städte, Festivals und Veranstaltungen aussehen würden, ohne die freien Künstler und Institutionen. Ohne die Menschen, die seit Jahren immer wieder aufs Neue ihre Energie, Kreativität, Kraft und Zeit darein stecken, anderen Menschen etwas mitzugeben.

Nebenbei bemerkt ist die Kulturszene in Deutschland mit einem Bruttoumsatz im Jahr 2019 von über 100 Milliarden Euro eine der umsatzstärksten Branchen in Deutschland – unter normalen Umständen.

Wir brauchen einander

Wenn dieser Tage öffentlich über die Relevanz der Kulturbranche gestritten wird, kommt mir immer wieder das Kinderbuch "Frederick" von Leo Lionni in den Sinn, das genau diese Frage behandelt. Während die meisten Mäuse Vorräte für die Winter sammeln, macht Frederick Kunst. Er dichtet, fängt das Gefühl von Sonnenstrahlen und Frühling ein, produziert Seelenfutter. Er wird dafür von den anderen Mäusen angefeindet, weil er keine systemrelevante Arbeit leistet. Er soll endlich was Ordentliches machen. Am Ende sind es neben ihren Vorräten, als die Stimmung schlecht wird und der Winter in der tristen, kalten Höhle kaum aushaltbar ist, seine Geschichten, die die Mäuse über den Winter bringen.

Der Gedanke, den ich als Kind daraus gezogen habe, ist nicht nur, dass der Wert von Kultur oft nur schwer messbar und trotzdem unglaublich wichtig ist, sondern auch, dass wir uns gegenseitig brauchen.

Publikum bei einem Rockkonzert
Gemeinsam feiern, gemeinsam helfen. Miteinander stark. (Archivbild) Bildrechte: colourbox.com

Viele sind momentan angespannt, einsam oder in großer finanzieller Not. Das ist verständlich. Gerade jetzt sollten wir einander die Hand reichen. Gemeinsam können wir einander stärken und irgendwie durch die Krise kommen. Dabei sollten wir die, die sich normalerweise täglich bemühen, unsere Welt ein Stückchen schöner und bunter zu gestalten, nicht im Stich lassen.

Wir müssen das Verschwinden von Kultursparten verhindern. Dazu braucht es staatliche Hilfen. In jeder Stadt gibt es aber auch viele kleine Projekte und Initiativen, um die lokale Kultur auf vielfältige Art zu unterstützen. Sei es durch Spenden, durch den Erwerb von Merchandise-Gegenständen, durch das freiwillige Schauen von Werbung oder andere Initiativen.

Und ganz wichtig: Persönliche Wertschätzung ausdrücken und den Menschen Mut machen, dass es sich lohnt, dran zu bleiben. Sie werden es uns mit Freuden zurückzahlen, sobald sie wieder dürfen. In Form von atemberaubender, bunter Kultur.

Leonard Schubert
Bildrechte: MDR/Jörn Rettig

Über den Autor Leonard Schubert arbeitet seit Februar 2020 in der Online-Redaktion von MDR SACHSEN-ANHALT. Seine Interessensschwerpunkte sind Politik, Umwelt und Gesellschaft. Erste journalistische Erfahrungen sammelte er beim Charles Coleman Verlag, für das Outdoormagazin Walden und beim ZDF.

Nebenher arbeitet er an seinem Masterabschluss in Friedens- und Konfliktforschung. Über den Umweg Leipzig kam der gebürtige Kölner 2016 nach Magdeburg, wo er besonders gern im Stadtpark unterwegs ist. In seiner Freizeit steht er mit großer Leidenschaft auf den Poetryslambühnen Sachsen-Anhalts oder sitzt mit einem Eisbärbier am Lagerfeuer, irgendwo in Skandinavien.

Quelle: MDR/ls

Dieses Thema im Programm: MDR um 11 | 27. Mai 2020 | 11:00 Uhr

15 Kommentare

C.T. am 03.06.2020

"...Kultur ist das Atmen der Gesellschaft, also auch LEBENSNOTWENDIG!"

Kasperletheater hat noch niemanden gesättigt oder geheilt. Kultur ist da stark, wo auch die Goldschatullen des Publikums gut gefüllt sind. Magdeburg ist so reich an Kultur wie es Eis in der Sahara gibt.

Denkschnecke am 02.06.2020

Den betroffenen freiberuflichen Künstlern ist die angstfreie Atmosphäre gerade mal sekundär wichtig. Die wissen seit ungefähr drei Monaten einfach nicht, wovon sie ihre Brötchen kaufen sollen (wenn sie nicht einen Partner in einer festen Anstellung haben).

Denkschnecke am 02.06.2020

"die Spreu vom Weizen zu trennen" Das ist zynisch. Im Moment trennt sich die Spreu der glücklichen, fest angestellten Musiker an Opernhäusern und städtischen Orchestern von denen, die freiberuflich unterwegs sind. Gerade die letzteren sind die, die "neue, gute Projekte" machen und nicht den hundertsten Beethoven herunterrocken. Und gerade die haben gerade null Euro Einkommen, während die anderen ihre festes Einkommen haben, aber nicht mal proben konnten (was einen Musiker auch nicht glücklich macht).

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