Reportage Corona-Proteste an der B96: Sehnsucht nach Kohl und Kaiserreich

20. Juli 2020, 11:31 Uhr

Es ist idyllisch am Sonntagmorgen im Oberlausitzer Bergland. In den Dörfern mit ihren schmucken Umgebindehäusern sieht man nur vereinzelt jemanden den Hund Gassi führen. Doch punkt 10 Uhr ändert sich schlagartig das Bild: Auf einmal haben sich an der Bundesstraße B96 zwischen Zittau und Bautzen Menschen mit einem Sammelsurium an Fahnen und Transparenten aufgestellt – gegen Mundschutz, gegen Impfen, gegen Gates, gegen die Bevormundung des Volkes, gegen die Beschneidung von Freiheiten, gegen das System.

Maskenpflicht abschaffen

Generell gegen die Corona-Maßnahmen und für die Zukunft ihrer Kinder und Enkelkinder geht eine Frau in Ebersbach-Neugersdorf auf die Straße, wie sie sagt. "Es wird alles kaputt gemacht. Die Vereine haben zu kämpfen, die Betriebe, die Gaststätten", pflichtet eine andere ihr bei. Die Maskenpflicht müsse abgeschafft werden, das habe alles kein Verhältnis mehr. Schließlich gebe es im angrenzenden Tschechien seit 1. Juli auch keine Maskenpflicht mehr. 

Im Mai hatten die sogenannten stillen Proteste an der B96 in der Oberlausitz mit einer Menschenkette gegen die Corona-Maßnahmen ihren Anfang genommen. Dann kamen die ersten Lockerungen. An der B96 geblieben ist jetzt der harte Kern. Es sei deutlich weniger geworden, wobei in der großen Gemengelage, nicht wirklich klar wird, gegen was nun protestiert wird, beobachtet der Bürgermeister von Oderwitz, Cornelius Stempel. "Leider müssen wir eine gewisse Radikalisierung konstatieren. Es sind viele Fahnen und Symbole dabei, die sich gegen unsere Demokratie richten", sagt er.

So wehen zwischen den Sachsen- und Oberlausitzfahnen viele Kaiserreichsflaggen, auch mal Kriegsflaggen des Kaiserreiches und eine Angriffsfahne der kaiserlichen Marine. Dazu kommen Fantasiefahnen mit pathetischen Symbolen und Worten. Auf einer schwarz-weiß-roten Flagge mit eisernem Kreuz in der Mitte steht in alter deutscher Schrift "Deutschland wehre dich, ansonsten bist du verloren". Verboten ist davon nichts.

Zum Protest in die Oberlausitz

Am Ortsausgang von Zittau stehen zwei Frauen wie in den Boden gerammt an der Bundestraße und halten die schwarz-weiß-roten Fahnen über den Fahrbahnrand. Der letzte Moment, wo Deutschland ein souveräner Staat gewesen sei, sei das Kaiserreich gewesen und nicht jetzt diese demokratischen Nullen, erklärt ein Mann daneben. Der Baden-Württemberger und gebürtige Oberlausitzer habe in seiner Heimat noch ein Grundstück und nutze jede Gelegenheit, um hier zu protestieren. "Ich gehe auch zu Pegida", sagt er. Unterdessen fährt ein Auto vorbei, die Insassen heben anerkennend die Daumen, es wird gehupt – wie an vielen anderen Stellen auch.

Einem Ehepaar in Mittelherwigsdorf geht es nicht nur um die Corona-Maßnahmen, worauf zunächst ihr Schild hindeutet. "Ich bin kein Rassist und habe nichts gegen Ausländer. Aber wenn man sich als Deutscher nur noch mit Schuldgefühlen bewegen darf wegen der Nazizeit, wegen Rassismus und was weiß ich alles, das ist ja wohl nicht normal", sagt der Mann, der sich die politische Ära von Helmut Kohl zurückwünscht. Heutzutage fühle er sich ideologisch unterdrückt.

Die Bürgermeister der Ortschaften an der B96 würden dies nicht so sehen. Sie gestehen ihren Leuten ihre Meinungen und Proteste zu. Gerade in der Zeit der härtesten Corona-Beschränkungen, die tief in die Freiheit der Menschen eingriff, galt es dies zu akzeptieren, sagt Markus Michauk, Bürgermeister von Großpostwitz. "Der Protest als solches ist eines der Grundrechte, da habe ich überhaupt kein Problem damit", erklärt auch Matthias Lehmann, Bürgermeister von Neusalza-Spremberg. Zu denken gibt ihnen aber eine mögliche Unterwanderung und Protesttourismus durch die rechte Szene. In Oppach sollen schon Leute aus Pirna und Pillnitz gewesen sein, so Lehmann.

Es ist relativ schwer ein Gespräch zu führen, wenn man die Grundannahme nicht teilt.

Thomas Zenker Oberbürgermeister von Zittau

Auch Thomas Zenker, der OB von Zittau ist überzeugt, dass diejenigen mit grenzwertigen Ansichten eine deutliche Minderheit sind und "für die Gesamtregion nicht relevant". Mit ihnen zu diskutieren, hält er nicht für erfolgversprechend, da ja bereits Grundannahmen nicht geteilt würden. "Wenn wir uns darüber streiten, dass es schwierig ist, wenn man Einrichtungen schließt und bestimmte Dinge nicht stattfinden können, kann ich das akzeptieren. Aber wenn der eine sagt, Corona ist nicht existent oder nicht gefährlich, dann ist an dieser Stelle schon das Gespräch schwierig."

Sei es nun Corona, das politische System oder die Sehnsucht nach dem Kaiser - Schlag 11 Uhr ist alles wieder vorbei. Die Fahnen werden eingerollt, die Schilder weggepackt und es wird zum Dorfklatsch übergegangen.

Verfassungsschutz beobachtet die Proteste

Der Sächsische Verfassungsschutz behält gegenwärtig ein Auge auf die Aktivitäten von Extremisten bei den Protesten an der B96. Die rechtsextremistische Szene instrumentalisiere die Corona-Proteste für ihre Ideologie und versuche, eine größere Anschlussfähigkeit gegenüber bürgerlichen Kreisen durch das Aufgreifen des Themas Grundrechtsschutz zu erreichen, so Martin Döring vom Sächsischen Landesamt für Verfassungsschutz. Beispielsweise werbe die NPD für Teilnehmer an den B96-Protesten und im Internet veröffentlichte Fotos und Videos belegen, dass Einzelpersonen, die der rechtsextremistischen Szene zugerechnet werden, bei den Protesten mit dabei sind.

Die Polizei Görlitz, die am Sonntag mit mehreren Streifen entlang der B96 im Einsatz war, zählte an dem Vormittag etwa 130 Menschen, die protestiert hatten. Es wurden zwei Anzeigen wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz aufgenommen. Darüber hinaus stellten Beamte ein Banner an der Hauptstraße in Oderwitz sicher. Das Dezernat Staatsschutz prüft derzeit den Inhalt auf seine mögliche Strafbarkeit.

Quelle: MDR/ma

Dieses Thema im Programm bei MDR SACHSEN MDR SACHSENSPIEGEL | 19.07.2020 | 19:00 Uhr

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