Rückblick auf die Debatte seit 2018 Warum es in Sachsen keinen Bildungsurlaub gibt

22. Juli 2018, 11:51 Uhr

Obwohl Arbeitnehmer in fast allen Bundesländern einen Anspruch auf Bildungsurlaub haben, tut sich in Sachsen weiterhin nichts. Auch ein jüngster Gesetzvorschlag der Grünen scheiterte. Doch was sind die Gründe?

14 von 16 Bundesländern haben ihn bereits. Nur Bayern und Sachsen machen nicht mit. Die Rede ist vom Bildungsurlaub. Ein Gesetzentwurf der Grünen über ein sächsisches Bildungsfreistellungsgesetz scheiterte Ende Juni im Sächsischen Landtag. Das Gesetz sollte jedem Arbeitnehmer im Freistaat im Laufe von zwei Jahren einen Rechtsanspruch auf zehn Tage bezahlten Bildungsurlaub gewähren.

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Petra Zais, kann nicht verstehen, warum der Vorschlag keine Zustimmung gefunden hat. Die vor allem von der CDU vorgetragene Sorge, einer zu großen Belastung der Wirtschaft, teilt sie nicht. "In sämtlichen Bundesländern, die ein Recht auf Bildungsfreistellung gesetzlich verankert haben, ist nicht zu erkennen, dass die Wirtschaft kollabiert wäre."

Ich finde es wichtig, dass sich Arbeitnehmer auch außerhalb der betrieblichen Bildung von Industrie- und Handelskammer oder Handwerkskammer fortbilden.

Petra Zais Arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Grüne

Gerade politische Bildung komme bisher deutlich zu kurz. "Wo passiert denn noch politische Bildung, wenn Jugendliche einmal aus der Schule raus sind", fragt Zais, die auch auf dem Feld des Ehrenamtes Anwendungsmöglichkeiten sieht: "Helfer im Sport könnten den Bildungsurlaub zum Beispiel nutzen, um sich im Vereinsrecht weiterzubilden."

Über den Tellerrand schauen

Der Ansatz, über den Tellerrand des beruflichen Alltags hinauszublicken, stößt auch bei Sachsens stellvertretender DGB-Vorsitzenden Anne Neuendorf auf positive Resonanz: "Die ganzheitliche Entwicklung des Menschen muss im Vordergrund stehen, damit er beispielsweise auch in der Lage ist, sich in der Gesellschaft zu engagieren." Besonders in Sachsen könne deshalb politische Bildung nicht schaden, sagt Neuendorf, die unter dem Namen "Bildungszeit" einen eigenen Vorstoß der Gewerkschaft für den Herbst ankündigt.

Obwohl es viele Bereiche gäbe, die für das Angebot infrage kämen, beißen Grüne und Gewerkschaft damit insbesondere bei der CDU auf Granit. Der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Frank Heidan, fürchtet Nachteile vor allem für kleinere Unternehmen.

Der Gesetzentwurf will einen Rechtsanspruch auf regelmäßigen privatorientierten Bildungsurlaub durchsetzen, ohne jedoch die betrieblichen Bedürfnisse berücksichtigen zu müssen.

Frank Heidan Wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion

In Sachsen gebe es zu über 90 Prozent kleine und mittelständische Firmen. Insbesondere die kleinen würden durch Bildungsurlaub zusätzlich belastet. "Diese Firmen erbringen bei betrieblichem Bedarf schon einen großen Beitrag zur Weiterbildung und stellen die Mitarbeiter dazu frei", sagt Heidan. Mit knapp 20 Stunden pro Mitarbeiter im Jahr wendeten kleine Unternehmen mehr Zeit für Weiterbildung auf als mittlere und große Unternehmen. "Wir wollen nicht, dass diese Unternehmen einen Wettbewerbsnachteil erleiden und lehnen deshalb den Gesetzentwurf ab." 

Den Grünen sei die Last für sehr kleine Unternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitern durchaus bewusst, sagte der wirtschaftspolitische Sprecher der Landtagsfraktion, Gerd Lippold. Deshalb sei auch eine Kostenerstattung durch den Freistaat Teil des Vorschlags gewesen. 750.000 Euro sollte Sachsen demnach für 14.000 Tage Bildungsurlaub im Jahr bereitstellen. Das Geld wäre als feste Pauschale für jeden Arbeitnehmer ausgezahlt worden.

Frank Heidan überzeugt das nicht. Es gebe bereits das Instrument des Weiterbildungsschecks, der von den sächsischen Unternehmen angenommen werde. "Daher besteht für weiterführende bürokratische Maßnahmen kein Handlungsbedarf", sagt er. Beim Weiterbildungsscheck werden bis zu 80 Prozent der Weiterbildungskosten durch einen Zuschuss gefördert. Dabei wird ausschließlich berufliche Bildung unterstützt.

Sächsische Wirtschaft bevorzugt freiwillige Lösungen

Rückendeckung bekommt Heidan von der Vereinigung der sächsischen Wirtschaft. Allgemeine, von der betrieblichen Praxis abgekoppelte Bildungsmaßnahmen seien für die Betriebe mit erheblichen zusätzlichen Kosten verbunden, obwohl allein der Arbeitnehmer Interesse an und Nutzen von der Maßnahme hat, teilt Sprecherin Sandra Lange mit.

Der Verband plädiert ausschließlich für betriebliche Bildung und weist darauf hin, dass die Unternehmen in Deutschland im vergangenen Jahr 33,5 Milliarden Euro dafür ausgegeben hätten. Neben der Kostenübernahme gebe es häufig auch eine Freistellung von der Arbeit. Diese freiwilligen Lösungen hält der Arbeitgeberverband für den besseren Weg und kann sich lediglich einen Erweiterung des Weiterbildungschecks vorstellen, so Lange.

Erfahrungen der Nachbarländer

Während in Sachsen nur über Bildungsurlaub debattiert wird, gibt es ihn in Sachsen-Anhalt bereits seit 1998, in Thüringen seit 2016. Nach Angaben des Ministeriums für Bildung in Sachsen-Anhalt hat die Zahl der anerkannten Weiterbildungen im Laufe der Jahre stetig zugenommen. Insgesamt seien derzeit 1.532 Veranstaltungen anerkannt. 1.543 Arbeitnehmer nehmen das Angebot im Schnitt pro Jahr in Anspruch, was einer Quote von 0,61 Prozent entspreche. Die Tendenz sei steigend, so das Ministerium.

In Thüringen ist die Situation ähnlich. 1.321 Bildungsveranstaltungen werden dort momentan von 345 Bildungsträgern angeboten. 1.451 Beschäftigte haben den Bildungsurlaub durchschnittlich innerhalb eines Jahres in Anspruch genommen.

Übersicht Bildungsurlaub in Sachsen-Anhalt und Thüringen

Sachsen-Anhalt (seit 1. Januar 1998) Wer: Anspruch für Arbeitnehmer, Auszubildende, Arbeitslose

Wie viel: fünf Arbeitstage pro Kalenderjahr,  Anspruch von zwei Jahren kann zusammengefasst werden

Inhalt: berufliche Bildung – mehrtägig oder als Tagesveranstaltung

Fristen: Arbeitnehmer erwirbt Anspruch nach sechs Monaten in der Firma, Wunsch nach Freistellung muss mindestens sechs Wochen vor Beginn der Veranstaltung schriftlich geltend gemacht werden

Quelle: Bildunsgfreistellungsgesetz Sachsen-Anhalt

Thüringen (seit 1. Januar 2016) Wer: Anspruch für Arbeitnehmer, Auszubildende, Beamte und Richter

Wie viel: fünf Arbeitstage pro Kalenderjahr, Anspruch kann einmalig auf das folgende Jahr übertragen werden.

Inhalt: berufliche und politische Bildung sowie Veranstaltungen im Bereich des Ehrenamtes

Fristen: Anspruch entsteht nach sechs Monaten im Betrieb, geplante Bildungsfreistellung muss spätestens acht Wochen vor Beginn der Bildungsveranstaltung schriftlich geltend gemacht werden

Ausschlusskriterium: für Beschäftigte in einem Unternehmen, das weniger als fünf Beschäftigte hat, besteht kein Anspruch auf Bildungsfreistellung

Quelle: Thüringer Bildungsfreistellungsgesetz

Dieses Thema im Programm bei MDR SACHSEN MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | 09.05.2018 | 10:00 Uhr in den Nachrichten

Mehr aus Sachsen

Nachrichten

Ein Mädchen steht blickt in eine Kamera und lächelt. 1 min
Mädchen einer 9. Klasse besuchten das MDR-Landes-funk-haus Sachsen in Dresden. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
1 min 25.04.2024 | 20:15 Uhr

Zum heutigen Girls- und Boys-Day haben Jugendliche die Möglichkeit genutzt, in verschiedene Berufsfelder hineinzuschnuppern. So besuchten Mädchen einer 9. Klasse das MDR-Landesfunkhaus Sachsen in Dresden.

Do 25.04.2024 18:47Uhr 00:25 min

https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/video-girlsday-boysday-dresden-mdr-geschlechterrollen-klischees-102.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Video