Reportage "Corona hat mich platt gemacht" - ein Patient berichtet

19. September 2020, 07:00 Uhr

Wolfgang Hempel war fast tot. Das Coronavirus hatte seinen Körper geflutet. Er konnte nicht mehr atmen, nicht mehr essen, nicht mehr sprechen. Weder Arme noch Beine bewegen. Ein halbes Jahr liegt er jetzt im Krankenhaus. Jetzt soll er aus der Reha-Klinik Kreischa entlassen werden – wenn seine Muskeln mitspielen.

An der Schwelle zum Tod

Wolfgang Hempel hat Humor. "Ich wachte am Krematorium wieder auf", erzählt er von seinen Traum und rückt sich im Rollstuhl zurecht. "Dort habe ich gefragt, ob meine Frau noch da ist." Mit Blick in die Runde fährt er fort. "Ja, haben die anderen gesagt. Ich darauf: Na dann, gebn'se mir mal das Telefon." Hempels Augen blitzen. Er freut sich, wenn gelacht wird. Das ist zuletzt nicht so häufig passiert. Wahrer Humor ist eben, wenn man trotzdem lacht.

Hempel stützt sich auf die Lehnen seines Rollstuhls und drückt sich langsam nach oben. "Sehn'se, ich kann sogar wieder stehen", sagt er, bevor er sich langsam wieder in den Sitz sinken lässt. Die Sonne flutet sein Bett, Hempel lächelt. Doch was jetzt leicht und sommerlich anmutet, war über fünf Monate ein Kampf an der Schwelle zum Tod. Ein komatöses Dasein, ohne Atem, Essen, Sprache. Ein bewusstloser Kampf gegen ein Virus, das auf Grafiken oft anmutet, als klebten Mensch-Ärger-Dich-Nicht-Figuren umgekehrt an einem Ball. Fast verspielt. Doch unbekümmert ist niemand mehr auf der Corona-Station der Reha-Klinik in Kreischa. Zu hart, zu lang seien die Qualen der Patienten.

Angst vor dem Ersticken

"Wir haben Demut gelernt", sagt Andreas Bauer. Er ist Chefarzt der Corona-Rehhabilitations-Station in Zscheckwitz, südlich von Dresden. Die Station wurde im April am Standort der Reha-Kinderklinik eröffnet. In einem extra Gebäude versuchen hier Patienten aus ganz Deutschland aus der Zwischenwelt zwischen Sein und Nichtsein wieder ins Leben zu gelangen. Wer nach Kreischa kommt, hat oft wochenlang in Narkose gelegen. Rehabilitation meint hier nicht Gymnastikstunden und Therapie in der Sonne. Rehabilitation in Kreischa heißt Aufwachen mit Atemnot, Angst vor dem Ersticken, mühevoll und mit Panik wieder das Atmen zu lernen.

Die Lunge als verklebter Schwamm

"So etwas haben wir noch nie gesehen", erklärt Chefarzt Bauer mit gedämpfter Stimme. "Stellen Sie sich das so vor: Die Lunge funktioniert wie ein Schwamm. Durch das Virus und die Abwehrreaktion des Körpers verklebt dieser Schwamm mit einer dicken Soße." Die Lungenschäden seien gravierend. Die Atemmuskulatur durch die lange Beatmung verkümmert. "Die Patienten haben Todesängste", sagt Bauer. "Das ist deutlich ausgeprägter, als wir das auf normalen Intensivstationen gewohnt sind."

Dem Bruder wieder nah

Der 67-Jährige Wolfgang Hempel aus Merseburg hat heute seine Qualen verdrängt. Sein Bruder ist zu Besuch. "Wir haben wieder zusammengefunden", erklärt Hempel. Im Gesicht des Bruders hängt eine Mischung aus Liebe, Sorge und Stolz. Fast hätte er seinen Wolfgang verloren. Doch dann ist er doch nicht gegangen, obwohl es zwischenzeitlich ganz knapp schien.

Nicht bereit aufzugeben

Corona hat mich platt gemacht. Ich wollte gehen, ich hatte keine Lust mehr. Dann habe ich meine Frau angerufen und gefragt. Sie meinte, sie will ihren Dicken noch 'ne Weile haben. Ich kann sie doch nicht im Stich lassen.

Wolfgang Hempel Corona-Intensivpatient

Zweimal brach Hempel im April zusammen, damals wog er noch 99 Kilogramm. Zweimal wurde er im Krankenhaus behandelt und wieder entlassen. Dann zog es ihn endgültig den Boden unter den Füßen weg. Wieder Krankenhaus, Intensivstation, Langzeitnarkose, Beatmung. Eine per Luftröhrenschnitt in den Hals eingeführte Trachialkanüle versorgte die Lunge mit Sauerstoff. "Die Patienten werden in der Beatmung sediert", erklärt Bauer. Die Langzeitnarkose soll den Schlauch im Hals erträglicher machen.

Schwere Verläufe

Stunden vergehen, Tage, Wochen. Plötzlich sind drei Monate vorbei. Hempel wird schließlich von der Intensivstation in Merseburg in die Reha-Klinik Kreischa verlegt. Ein Hubschrauber bringt ihn nach Ostsachsen. Über einen extra Klinikeingang - es herrschen strenge Infektionsschutzbestimmungen - schieben die Ärzte Hempel auf die neue Corona-Station. Mit ihm liegen dort Menschen aus ganz Deutschland. "Alles schwere Verläufe", erklärt Chefarzt Bauer. Viele seien mit Hubschraubern eingeflogen worden. Trotz Intensivmedizin und guter Versorgung schaffen es manche nicht. "In Mitteldeutschland haben wir eine Sterberate von fünf Prozent, das ist viel.“

Tag und Nacht piepen Geräte, bahnen sich Kurven auf Bildschirmen ihren Weg. Im Zimmer der Stationsleitung laufen die Daten aller Patienten zusammen. Diagramme, die Leben bedeuten. Jeder Bildschirm zeigt die Verläufe eines Patienten. Stimmt etwas nicht, leuchtet er rot. Während Hempel mit seinem Bruder spricht, blinkt es auf dem Bildschirm eines anderen Patienten - rot.

Oberstes Ziel: Entwöhnung der Beatmung

"Unser oberstes Ziel ist, die Patienten möglichst rasch von der Beatmung wegzubekommen", erklärt Chefarzt Bauer. Dies gelinge jedoch nur langsam. Mit viel Geduld müsse die Atemmuskulatur wieder gestärkt werden. Neben Bauer sitzt Anja Zuther. Sie ist Stationsleiterin und hat in den vergangenen Monaten in viele Augen geblickt. "Ganz häufig weiß der Patient überhaupt nicht, dass er beatmet wird", erklärt die Pflegerin. "Wir begleiten ihn, wenn er von der Beatmung entwöhnt wird. Dabei erlebt er jedoch sehr häufig Todes- und Erstickungsängste." Nur mit viel Einfühlungsvermögen und intensiver Betreuung gelinge es, den Patienten wieder Orientierung zu verschaffen und zu erklären, warum sie mit Aufwendung enormer Kraft auf einmal wieder selbstständig atmen sollten. "Sie können die ganze Therapie nicht verstehen", erklärt Zuther. "Hier müssen wir stark einwirken, dass der Patient die Therapie überhaupt akzeptiert, um wieder ins Leben zu finden."

Regungsloses Verharren

Hempels Frau ließ sich von ihrem Neffen einmal in der Woche über 160 Kilometer nach Kreischa fahren. Dort saß sie am Krankenbett ihres bewusstlosen Mannes und streichelte seine Hände, doch nichts regte sich. "Leider gibt es von mir kein Foto am Beatmungsgerät", frotzelt Hempel. "Daran hat meine Frau in dem Moment nicht gedacht."

Aufwachen im Nirgendwo

Als Hempel nach seinem Zusammenbruch langsam wieder aufwacht, denkt er zuerst an einen Verkehrsunfall. Nur langsam sickern die Fakten und das Bewusstsein durch. "Die psychische Komponente ist nicht zu unterschätzen, viele Patienten sind in einem sehr verwirrten Zustand, von dem wir sie abholen müssen", erklärt Schwester Anja. "Oft wissen sie nicht, wo sie sich gerade befinden, was mit ihnen gerade passiert und wer ihre Angehörigen sind." Wolfgang Hempel hat erst nach Wochen verstanden, was mit ihm passiert ist: Er hatte Corona und er lebt.

Immense Folgeerkrankungen

Auf die Klarheit, die sich einstellte, folgt jedoch eine andere niederschmetternde Erkenntnis. Abseits seiner schwierigen Atemversuche konnte Hempel nicht mehr reden und nicht mehr schlucken. Er konnte seine Gliedmaßen nicht mehr bewegen und erst recht nicht laufen. "Corona hat unsere Patienten schwer betroffen gemacht, viele sind lange Zeit sehr schwer pflegebedürftig", erklärt Chefarzt Bauer. Der Beatmungsschlauch in der Luftröhre verhindere, dass die Patienten richtig essen, trinken oder sprechen können. Auch die Sprech- und Schluckmuskeln seien verkümmert. "Wir müssen ganz von vorn anfangen", erklärt Pflegerin Anja Zuther.

Wieder sprechen und laufen lernen

Schlucken lernen, sprechen lernen, laufen lernen. Logopäden und Physiotherapeuten haben Hempel wieder aufgepäppelt. "Ich bin heute 500 Meter auf dem Laufband gegangen", sagt der Senior mit einem Strahlen im Gesicht. "Das wäre vor Wochen noch nicht denkbar gewesen." Weil er trotzdem noch wackelig auf den Beinen sei, habe er seine Therapie um zwei Wochen verlängert. Zu Hause muss er ja auch laufen und will nicht gleich in die Schrankwand fallen.

Viele Patienten müssen zur Dialyse

"Die Folgeerkrankungen sind für die Patienten langfristig sehr einschneidend", sagt Bauer. Viele Patienten müssten zudem an die Dialyse, weil sich die Nieren entzündet haben. Andere wiederum hätten Probleme durch eine entzündete Leber. "Das Coronavirus provoziert eine massive Ganzkörper-Entzündung", sagt Bauer. Nach einer langen Zeit gelänge es zwei Dritteln aller Patienten, wie Wolfgang Hempel, ohne große Einschränkungen wieder nach Hause zurückzukehren.

Kassler und Sauerkraut

Hempel hat jetzt einen Entschluss gefasst. "Sehn'se" ruft er wieder. Er stemmt sich noch einmal auf die Lehnen seines Rollstuhls, bis er steht. Doch dann setzt er sich nicht, sondern läuft. Langsam setzt er ein Bein vor das andere, zittert leicht, läuft weiter. Bis er am Ende des Zimmers angekommen ist, zwischen Arzt Andreas Bauer und Stationsleiterin Anja Zuther. "Sie haben sich hier sehr viel Mühe gegeben", sagt er und nickt leicht. Er wiegt jetzt 70 Kilogramm. Montag, Mittwoch und Freitag muss mit Dialyse sein Blut gereinigt werden. Noch immer schmeckt er nicht richtig. Auf das erste Essen zu Hause freut er sich dennoch. "Krauteintopf mit Kassler und Sauerkraut, das wäre toll."

Reha-Klinik-Kreischa Die Reha-Klinik Kreischa versorgt ihre Patienten isoliert am Standort Zscheckwitz nahe Kreischa. Insgesamt können dort über 50 Patientinnen und Patienten versorgt werden, derzeit liegen etwa 15 zur Rehabilitation nach einer Corona-Infektion im Klinikum Kreischa.

Quelle: MDR

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