Hintergrundrecherche Überall nur "Kriminelle Ausländer"? - Pressemitteilungen der AfD-Fraktion Sachsen verzerren das Ausmaß

In der Kriminalpolitischen Zeitschrift "KriPoZ" ist ein wissenschaftlicher Beitrag erschienen mit dem Titel "Kriminalität in Deutschland im Spiegel von Pressemitteilungen der Alternative für Deutschland (AfD)". Darin wird festgestellt, dass die AfD das tatsächliche Ausmaß von Ausländerkriminalität deutlich überhöht darstellt und inhaltlich verzerrt widerspiegelt, Straftaten durch Deutsche hingegen würden marginalisiert. Wie die AfD allerdings an ihre Zahlen kommt und mit welchen Methoden diese Statistiken mitunter recht selektiv wiedergegeben werden, spielt bei dieser Untersuchung eine eher untergeordnete Rolle. MDR SACHSEN hat dazu einige Beispiele recherchiert.

"Unsere Kinder müssen vor sexueller Gewalt besser geschützt werden" lautet der Titel einer Pressemitteilung der AfD-Fraktion Sachsen vom 28. Mai. Eine Forderung, die parteiübergreifend sicherlich jeder unterschreiben würde, doch der Text geht weiter:

"Deutsche Kinder sind mehrheitlich Opfer von sexueller Gewalt in Sachsens Freibädern [...] Das ergab die Kleine Anfrage (6/17508) der AfD-Fraktion. Fast 70 Prozent aller Täter, die unsere Kinder und Jugendlichen im Schwimmbad sexuell belästigt haben, sind Männer aus islamischen Ländern. […] Sie verweigern sich der Integration in unser Wertesystem und missbrauchen unsere Frauen und Kinder", heißt es in dem Pressetext, der mit einem sogenannten "Sharepic" garniert wird - einem Agenturfoto, das spielende Kinder im Freibad zeigt. Im Vordergrund steht Dr. Rolf Weigand, hochschul- und sportpolitischer Sprecher der AfD-Fraktion im Sächsischen Landtag.

Das Innenministerium als unfreiwilliger Helfer

Der Hinweis auf die "Kleine Anfrage (6/17508)" ist besonders interessant: diese Drucksachen-Nummer ist theoretisch für jedermann online recherchierbar im elektronischen Dokumentations- und Archivsystem (EDAS) der Verwaltung des Sächsischen Landtags. Doch dieses System ist in puncto Bedienerfreundlichkeit eben nicht für "jedermann" ausgelegt, sondern in erster Linie für Parlamentarier und Journalisten.

Dabei ist das Ergebnis höchst aufschlussreich: Rolf Weigand von der AfD-Fraktion hatte nämlich keineswegs nur nach "Sexueller Belästigung in Schwimmbädern" gefragt, sondern nach sämtlichen Sexualdelikten in Sportstätten - also Turnhallen, Sportplätzen, Hallen- und Freibädern in Sachsen.

Dementsprechend umfangreich fällt die Antwort des Sächsischen Innenministeriums aus auf diese parlamentarische Anfrage: 16 Seiten lang ist das Dokument, mit dem das Innenministerium fristgemäß auf diese Anfrage antwortet, davon 14 Seiten Tabellenanhänge.

Ein kleiner Ausschnitt der (statistischen) Wahrheit

MDR SACHSEN hatte diese Tabellen noch am Tag der Veröffentlichung der AfD-Pressemitteilung statistisch ausgewertet. Demnach sind im Sinne der Fragestellung der AfD-Fraktion 79,7 Prozent der Tatverdächtigen Deutsche, bei 17 von insgesamt 28 verschiedenen Sexualdelikten inklusive "Gemeinschaftliche Vergewaltigung", "Vollzug des Beischlafs mit einem Kind", "Exhibitionistische Handlungen vor Kindern" und "Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen" sind sogar 100 Prozent der Tatverdächtigen Deutsche.

Warum also beschränkt sich die Pressemitteilung der AfD-Fraktion auf "Sexuelle Belästigung in Schwimmbädern"? Unsere tabellarische Auswertung zeigt: Für die drei verschiedenen Kategorien von Sportstätten (Turnhallen, Sportplätze, Schwimmbäder) und die 28 verschiedenen Sexualstrafdelikte, gibt es nur zwei Kombinationen, in denen Ausländer als Tatverdächtige in der Mehrheit sind, in einer der beiden sind es Personen mit Staatsbürgerschaften aus mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern: eben diese "Sexuelle Belästigung in Schwimmbädern".

Belästigung ist keine Gewalt, kleine Jungs sind keine Männer

Der erst im November 2016 eingeführte Straftatbestand "Sexuelle Belästigung" (§184i StGB) ist explizit kein Gewaltdelikt im rechtlichen Sinne, sondern definiert genau unterhalb jener sogenannten "Erheblichkeitsschwelle" Berührungen, die das Opfer als Belästigung zur Anzeige bringen möchte. Gemeint ist damit "Grapschen", also für den oder meistens die Betroffene äußerst erniedrigende Griffe an Po, Brust oder den Schambereich. Die Definition ist jedoch weit gefasst. Nach dem "Weimarer Zwiebelfest" im vergangenen Jahr wurde bundesweit über "Sexuelle Übergriffe durch Asylbewerber" berichtet - das Verfahren wurde später wegen Geringfügigkeit eingestellt, es ging um einen Griff an die Schulter.

Nochmal der Pressetext der AfD-Fraktion: "Deutsche Kinder sind mehrheitlich Opfer von sexueller Gewalt in Sachsens Freibädern (…) Fast 70 Prozent aller Täter, die unsere Kinder und Jugendlichen im Schwimmbad sexuell belästigt haben, sind Männer aus islamischen Ländern."

Gemeinschaftliche Vergewaltigungen oder Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen durch 100 Prozent deutsche Tatverdächtige werden nicht erwähnt, aber Sexuelle Belästigung ist demnach eine "Gewalttat durch Männer aus islamischen Ländern". Laut Antwort des Innenministeriums sind allerdings 13 der 20 ermittelten Tatverdächtigen zu "Sexuelle Belästigung im Schwimmbad" Jugendliche oder Kinder unter 14 Jahren und somit wohl kaum "Männer".

Eine Frage der Fragestellung

Ein Einzelfall? Keineswegs. Erst im Januar hatte MDR SACHSEN in einem Bericht über "Fake News" der AfD unter anderem über eine Pressemitteilung des Abgeordneten Carsten Hütter berichtet mit der Überschrift "Afghanische Asylbewerber führend im Sächsischen Drogenhandel". Bei dieser kleinen Anfrage wurden allerdings nur Tatverdächtige mit Staatsangehörigkeiten aus einigen wenigen Ländern abgefragt: Russland, Weißrussland, Ukraine, Türkei, Vietnam und Afghanistan.

Die Möglichkeit, dass in der Antwort des Sächsischen Innenministeriums Deutsche, Polen oder Tschechen, welche wegen der geografischen Lage Sachsens im Dreiländereck sicherlich auch in der Statistik zu erwarten gewesen wären, überhaupt als Tatverdächtige auftauchen könnten, wurde also schon durch die Fragestellung ausgeschlossen. Dabei dominieren deutsche Tatverdächtige laut Innenministerium mit rund 70 Prozent deutlich das "Länderranking" beim Drogenhandel in Sachsen, Tatverdächtige aus Afghanistan landen demnach mit 1,1 Prozent auf dem achten Platz. Die Aussage "Afghanische Asylbewerber führend im Sächsischen Drogenhandel" ist also schlichtweg falsch.

Geht nicht gibt's nicht

Eine andere, durchaus interessante Konstellation, ergibt sich aus einer aktuellen Pressemitteilung von Karin Wilke, der schulpolitischen Sprecherin der AfD-Fraktion in Sachsen. Darin heißt es: "Die Kriminalität an Dresdner Grundschulen ist um 224 Prozent gestiegen, berichtet "Bild". Neben Schulhofrangeleien wurden auch gefährliche Körperverletzung, Erpressung, Diebstahl und sogar sexueller Missbrauch zur Anzeige gebracht. 28 Prozent der Täter waren Ausländer. Die Analyse basiert auf einer Anfrage der AfD-Landtagsfraktion (6/16900)."

Ein Artikel der "Bild" beruht also auf einer Anfrage der AfD-Landtagsfraktion, deren Antwort des Innenministeriums die AfD wochenlang unkommentiert gelassen hatte, bis schließlich die BILD darüber berichtete, was die AfD wiederum umgehend für ihre Pressemitteilung genutzt hat.

Womöglich war der AfD-Fraktion klar, dass eine derart exorbitante Steigerungsrate Zweifler auf den Plan riefe: Faktenchecker. Doch so kann sich Karin Wilke auf eine "Analyse" "Bild" berufen und ergänzt: "Es ist erschreckend, wie kriminell und gewalttätig es mittlerweile bereits in der ersten bis vierten Klasse zugeht. (…) Welche Eltern können ihre Kinder noch ruhigen Gewissens in die Schule schicken?"

Leichtes Spiel für Faktenchecker

Tatsächlich wurde der entsprechende "Bild"-Artikel von diversen Faktencheckern umgehend widerlegt. Aber Karin Wilke hat in ihrer Pressemitteilung zu dem Artikel noch einige Fehler hinzugefügt. In der Antwort des Innenministeriums geht es nämlich gar nicht um "Straftaten in der ersten bis vierten Klasse", sondern um Straftaten mit der "Tatörtlichkeit Grundschule", also dem gesamten Schulgelände ungeachtet der Unterrichtszeiten. Dementsprechend wurden die meisten, durch die Polizei aufgenommenen Straftaten abends, an Wochenenden oder in den Ferien begangen - Einbrüche, Schlägereien oder Drogenbesitz. Die ermittelten Tatverdächtigen waren dem Grundschulalter längst entwachsen.

Hinzu kommt: die Steigerung von "+224 Prozent bei Kriminalität an Dresdner Grundschulen" beruht schlichtweg auf einem logischen Fehler: das Berichtsjahr 2018 ist mit den Vorjahren überhaupt nicht vergleichbar. Für das "Polizeiliche Auskunftssystem Sachsen (PASS)", welches das Innenministerium für die Antwort zur Anfrage der AfD-Fraktion genutzt hatte, gelten aus Datenschutzgründen relativ kurze Löschfristen für kleinere Delikte. Sämtliche Einträge beispielsweise zu Körperverletzungen und einfachen Diebstählen bis zum Jahr 2017 waren also zum Zeitpunkt der Anfrage bereits gelöscht, machten jedoch im darauffolgenden Jahr 2018 einen erheblichen Teil der Delikte aus. Da die Anzahl der Delikte aus den Vorjahren mit 2018 wegen dieser Löschfristen somit nicht vergleichbar ist, verbietet sich auch aus logischen Gründen die Angabe einer vermeintlichen Steigerungsrate.

Keine Handhabe gegen "Fake News" über Minderheiten?

Die Strafrechtlerin Prof. Elisa Hoven von der Universität Leipzig ist eine der Autor/innen des wissenschaftlichen Beitrags über Pressemitteilungen der AfD. MDR SACHSEN hat sie um eine Einschätzung gebeten, inwiefern "Fake News", die Ausländerkriminalität durch gezielte Selektion oder Manipulation von Statistiken deutlich überhöht darstellen, strafrechtlich relevant sein könnten.   

Elisa Hoven zur strafrechtlichen Relevanz "Es gibt den Tatbestand der üblen Nachrede beziehungsweise Verleumdung - dafür muss aber 'in Beziehung auf einen anderen' eine falsche Tatsache behauptet werden. Allgemeine Aussagen über ethnische Gruppen fallen nicht hierunter.

Fake News könnten jedoch als Volksverhetzung strafbar sein. Täter ist, wer 'in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert' (§ 130 StGB). 'Syrer', 'Asylbewerber' oder 'Zuwanderer' stellen eine solche geschützte Gruppe dar.

Schwierigkeiten bereitet allerdings die Voraussetzung 'zum Hass aufstacheln'. Typischerweise fallen unter den Tatbestand diskriminierende Hetzschriften, in denen eine aggressive und missachtende Haltung des Täters zum Ausdruck kommt. Ich bin der Meinung, dass man auch subtiler zum Hass aufstacheln kann; bewusste Unwahrheiten und Diffamierungen können in gleicher Weise eine feindselige Stimmung schaffen - vielleicht sogar noch effektiver, da sie sich auf scheinbare Fakten stützen. Höchstrichterlich wurde ein solcher Fall aber noch nicht entschieden - wir wissen also nicht, wie die Gerichte das sehen würden. Es müsste sich jedoch um einen eindeutigen Fall der Lüge handeln, anderenfalls würde die Meinungsfreiheit zu stark eingeschränkt."

Transparenzhinweis: Die Autor/innen der wissenschaftlichen Untersuchung von Pressemitteilungen der AfD benennen als "Initialzündung" für ihr Interesse an der Thematik eine nachweisliche Falschmeldung des künftigen Europaparlamentsabgeordneten Maximilian Krah von der sächsischen AfD über "Vergewaltigungen durch Zuwanderer" in Chemnitz. Der Autor dieses Artikels hat maßgeblich zur Widerlegung dieser offenbar frei erfundenen Behauptungen beigetragen, ebenso zu Faktenchecks zu den Pressemitteilungen über "Sexualstraftaten in Sportstätten", "Drogenhandel in Sachsen" und "Kriminalität an Grundschulen".

Dieses Thema im Programm bei MDR SACHSEN MDR SACHSENSPIEGEL | 06.06.2019 | 19:00 Uhr

Mehr aus der Landespolitik

Mehr aus Sachsen