Podcast - Folge 4 Heiliges Blechle! Revanche mit dem "Öhrchen" in Zwickau

29. Oktober 2022, 08:00 Uhr

Bei unserem ersten Treffen in Dresden hatte ich Daniel Martin meinen Lieblingsplatz in Dresden gezeigt. Anschließend lud er mich nach Zwickau zur "Revanche" ein. Mit Kamera und einem speziellen Mikrofon im Arm, machen Konstantin Henß und ich uns auf, Daniel in Zwickau zu besuchen und die Stadt mit den Ohren zu entdecken.

Eine Frau mit Brille und Hut steht auf einer Straße. Sie trägt Kopfhörer um den Hals.
Bildrechte: MDR/Amac Garbe

Was verbinde ich mit Zwickau? Klar: Autos! Und das, obwohl ich begeisterte Fußgängerin bin. Die Stadt an sich kennt bisher nur mein Finger – von der Suche auf Landkarten. Daniel Martin hat für den Auftakt seiner Lieblingsplatzrevanche mit ein paar ebenfalls sehbehinderten Freunden einen Ausflug ins August-Horch-Museum für uns organisiert. Da alle aus unterschiedlichen Richtungen anreisen, möchte sich die Gruppe vor dem Museum treffen.

Mein Kollege Konstantin Henß setzt mich am Hauptbahnhof in Zwickau ab. Für mich und mein Mikrofon die erste Station. Hier treffe ich auf Daniel. Am Bahnsteig wartet bereits der vollblinde Dietmar Mehnert auf uns. Die erste Nervosität wegen des Mikrofons, was ja alles aufzeichnet, ist schnell abgebaut. Dietmar lacht herzlich, als seine Finger die Silikonohren des "Öhrchens" erkunden. Die Ansage tönt aus den Lautsprechern und kündigt unsere Regionalbahn an.

Orientierung ist alles!

Eine Haltestelle später heißt es aussteigen. Der kleine Bahnsteig in Zwickau-Pölbitz scheint sich an die letzte Modernisierung kaum erinnern zu können. Meine Augen machen auf der einzelnen Plattform Konstantin aus, der bereits mit der Kamera auf uns wartet. Ich biete Daniel und Dietmar meine Arme an. Gemeinsam nähern wir drei uns der kleinen Treppe, in deren Nähe Konstantin filmt. Nach einer kurzen, herzlichen Begrüßung steigen wir zu dem Überführungstunnel hinab. Doch wohin jetzt weiter? Dass diese Regionalbahnhaltestelle günstig für alle ist, die mit der Bahn anreisen möchten, hatte man mir erzählt. Und ich bin davon ausgegangen, dass Daniel den restlichen Weg zum August-Horch-Museum kennen würde. Aber auch er steht zum ersten Mal hier. Ich sage mir "Wird schon schiefgehen! Kann ja nicht weit sein!" und schicke Konstantin mit dem Auto vor. Schließlich muss er ja noch ein paar Bilder von den anderen Freunden von Daniel drehen, die wahrscheinlich längst vor dem Museum stehen. Also mache ich mich mit Daniel und Dietmar auf, den Weg irgendwie zu finden. Außerhalb des Tunnels fällt mir kein Schild auf, das die Richtung verraten könnte. Gut, dann eben mit Smartphone. Zu irgendwas müssen die ganzen Apps ja taugen. Und siehe da, es dauert wirklich nicht lang, bis wir am Museum ankommen.

Weiße Kleider für die Finger

Daniels Freunde Lutz Beuthan, Dominic Schubert, Andre Brendel und Petra Voigt erwarten uns schon. Nach einem kurzen "Hallo" geht es auch schon los. Wir lernen Roland Schulze kennen, der unseren Ausflug in die Welt der Automobilgeschichte führen wird. Der 88-jährige Diplomingenieur ist zwar längst im Ruhestand, aber er wollte gern seine Idee, wie man eine Besuchergruppe mit Blinden durch die Ausstellung führen könnte, umsetzen und vielleicht andere inspirieren. An alle Teilnehmer werden weiße Handschuhe ausgegeben. Schließlich kann, darf und soll alles angefasst werden!

Beim ersten Ausstellungsstück ist die Gruppe noch etwas scheu. Herr Schulze motiviert jeden einzelnen, etwas von dem zu berühren, von dem er gerade erzählt. Und so gibt er Daniel einen Auftrag: Welches Wort steht auf dem Kühlergrill? Er begleitet Daniel zu der entsprechenden Stelle und führt seine Hände. Die verschnörkelte Schrift ist etwas schwierig zu entziffern. "Macht nichts! Haben doch noch mehr zum Anfassen", muntert Herr Schulze auf. Der nächste darf etwas von diesem Ausstellungsstück erfühlen. Und während viele Finger Stück für Stück alles erkunden, erzählt Herr Schulze, was es mit all den Teilen auf sich hat und wer eigentlich August Horch war. Wir tauchen ein in die 115-jährige Geschichte der Automobiltradition in Zwickau.

Ein Klacken zum Folgen

Roland Schulze hat sich nicht nur überlegt, welche Teile der Automobile in der Ausstellung gut zum Erkunden einladen, sondern auch, wie sich seine Gäste besser orientieren könnten. Mit einer Ratsche erzeugt er immer mal wieder kurze Töne. So bekommen seine Gästen ein Gefühl für die Richtung, in die sich die Gruppe bewegen soll und für den Raum, in dem sie sich gerade befinden. Je nach Höhe, Beschaffenheit der Wände und des Bodens, sowie der Fülle des Raumes legt das Geräusch der Ratsche einen längeren oder kürzeren Weg zu unseren Ohren zurück.

An meiner Seite ist die Marketingleiterin des August-Horch-Museums, Annett Lang. Sie ist neugierig, was sich Herr Schulze für diesen Tag Besonderes ausgedacht hat. Wir sind beide begeistert von seiner Idee mit der Ratsche.

Auch wir folgen den Tönen durch die Ausstellung. In der Werkhalle angekommen, wandelt sich der Klang zu etwas Weicherem. Hier gibt es einen Holzfußboden. Ehrlich gesagt, habe ich noch nie darüber nachgedacht, welche Menge an Zusatzinformationen unsere Ohren eigentlich so jeden Tag verarbeiten. Rings um uns herum sind funktionstüchtige Maschinen, mit denen in den 1920er- und 1930er-Jahren Automobile gefertigt wurden.

Ich frage Annett Lang, wie das mit Führungen für Blinde durch das Museum so ist und ob man eine ganze Gruppe dafür braucht.

Sie erzählt, dass die Anmeldung einfach und unkompliziert ist und auch Führungen für Einzelpersonen denkbar sind. Außerdem fügt sie hinzu, dass ein jeder, egal welche Einschränkung derjenige vielleicht haben sollte, ein Angebot finden würde: "Wir waren auch so ziemlich das erste sächsische Museum und sind dafür auch ausgezeichnet worden, das komplett barrierefrei ist. Also für Blinde, für Gehörlose, Barriere in der Bebauung sowieso. Und wir haben auch für leichte Sprache und geistig Behinderte ein Programm. Wir sind da für alle offen."

Wir sind für alle offen.

Annett Lang Marketingleiterin August-Horch-Museum Zwickau gGmbH

Vom Edelmetalltraum bis zum Albtraum

Unser Weg führt uns zu den berühmten Silberpfeilen. Die Gruppe macht auf einer kleinen Tribüne Halt und lauscht dem Film über die Renngeschichte. Als die Motorengeräusche der Rennwagen satt aus den Lautsprechern klingen, vibriert die Luft um mich herum. Was für ein Sound! Konstantin ist ebenfalls fasziniert: "Der fährt 340 km/h Spitze!"

Die nächste Station der Führung hat nichts mit Medaillen-Ruhm zu tun. Schon kurz bevor ich den kleinen, abgedunklten Raum betrete, höre ich Motoren alter Flugzeuge. Drinnen angelangt, bestätigen die Geräusche von Explosionen meine Vermutung, was hier für ein Thema behandelt wird: die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Im Halbdunkel steht ein zerschossenes Auto. Herr Schulze erklärt, dass es sich um ein Original handelt, das durch den Einbau in die nachgestellten Trümmerteile nicht gefahrenfrei ertastet werden kann.

Duftende Geschichte

Es geht ein Stockwerk tiefer. Hier ist ein historischer Straßenzug mit einer Ladenzeile nachgestellt. Viele alte Autos parken vor den "Geschäften". Eine kleine Treppe führt zu der letzten Station für heute – in den Tante-Emma-Laden. Eine große Registrierkasse thront neben einem Bonbonglas auf dem Tresen. Ringsherum finden sich viele Produkte aus längst vergangenen Tagen. Meine Nase meldet: "Frischer Kaffee!" Der ganze Laden ist mit einem Kakao-Kaffeegemisch erfüllt.

Ein bisschen Bewunderung darf sein!

Nach dieser Reise für alle Sinne unterhalte ich mich ein wenig mit Roland Schulze. Mich fasziniert, mit welcher Liebe, Energie und Einfühlungsvermögen der 88-Jährige uns dieses Erlebnis geschenkt hat. Die Sache mit dem Vorbild nimmt er sehr ernst. Er erklärt mir, dass er sich vorher intensiv in sein Gegenüber versucht hat zu versetzen. Die Zeit und Mühen waren es aber mehr als wert: "Es geht letzten Endes darum, auch den Leuten zu sagen, wir sind für dich da. Hier ist ein Betätigungsfeld. Kommt nur einfach her."

Es geht letzten Endes darum, auch den Leuten zu sagen, wir sind für dich da.

Roland Schulze Gemeinnütziger Förderverein August-Horch-Museum Zwickau e.V.

Die Führung ist zu Ende, alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen sichtlich glücklich und etwas müde im Foyer. Keiner lässt Zweifel aufkommen, dass das gerade ein einmalig schönes Erlebnis war. Wir haben nur einen kleinen Teil der Ausstellung erlebt, da ist noch so viel mehr für mindestens einen weiteren Besuch.

Nachdem alle ihre Handschuhe abgegeben und wir uns von Herrn Schulze und Frau Lang verabschiedet haben, trennen sich auch die Wege der Besuchergruppe. Während die anderen nach Hause gehen, machen sich Daniel, Konstantin und ich auf in die Innenstadt. Uns knurrt der Magen.

Eine Brühlette bitte

Schon in Dresden hatte Daniel von einer Zwickauer Spezialität geschwärmt: der Brühlette. Und so ist ganz klar, mit was wir den Hunger stillen wollen. Was genau da zwischen den Brötchenhälften eine Heimat gefunden hat, darüber bin ich mir noch im Unklaren. Aber warm und herzhaft klingt gut.

Eine Zwickauer Spezialität, die Brühlette mit Senf.
Daniels Hand hält die Zwickauer Spezialität – die Brühlette. Bildrechte: MDR/Marion Waldhauer

Und so fährt uns Konstantin zum Neumarkt. Dort soll das verheißungsvolle in Schmalz gebratene Schweine- und Kalbsfleisch an einer kleinen Bude zu finden sein. Als ich meine Portion in den Händen halte, vergesse ich, die Brötchenhälften einmal zu öffnen und das "Wunderwerk" zu bestaunen. Das Staunen übernimmt mein Gaumen. Schmeckt irgendwie ein bisschen nach Leberkäse.

Achtung wilde Tiere!

Mit der Stärkung im Bauch machen wir uns auf zur letzten Station für heute: dem Schwanenteich. Einer von Daniels Lieblingsorten. Unser Weg führt uns vorbei an geschäftigen Cafés und manch gut befahrener Straße quer durch die Innenstadt. Bei der letzten Straßenquerung erwischen wir eine etwas unglückliche Stelle: keine Mittelinsel und keine Ampel in der direkten Nähe. Daniels Stock wirkt aber irgendwie magisch und so halten freundliche Autofahrer und lassen uns drei passieren. Wir betreten den Park. Große Bäume umschmeicheln den Schotterweg, auf dem wir schlendern. Was sich an Hektik zuvor eingeschlichen hat, ist bei mir nun verflogen. Frieden und Ruhe kehrt ein.

Unsere Füße tragen uns zu einer Bank, die direkten Blick aufs Wasser bietet. Daniel erklärt, dass der Schwanenteich auch auf ihn eine solch beruhigende Wirkung hat. Er genieße es, dem Geräusch der Füße auf dem Schotter, den sich wiegenden Bäume und dem Treiben auf dem Wasser zu lauschen. Ich schließe die Augen und versuche einzutauchen. Der Wind, der frisch übers Wasser weht, bahnt sich den Weg zu meinem Ohr. Ein lautes Geräusch reißt mich jäh aus dieser Entspannung. Es krächzt noch einmal. Meine Augen suchen die Uferböschung ab und finden schnell den Krakeeler. Eine Gans watschelt mit ihren Jungen umher. Gut. Mit dir mag ich mich nicht anlegen! Wir lachen herzhaft und gehen auf Abstand.

Bitte mehr davon …

Die Zeit auf der Bank vergeht viel zu schnell und der Sonnenstand verrät uns, dass Konstantin und ich uns so langsam auf den Rückweg nach Dresden machen sollten. Also brechen wir unser Zelte ab und bringen Daniel zum Bahnhof zurück. Als wir uns verabschieden, ist da eine ordentliche Portion Wehmut dabei. Unsere gemeinsamen Abenteuer waren wunderschön, aufregend, lehrreich und haben Appetit auf viel mehr gemacht. Daniels Motto, das er auf seinen Unterarm in Braille hat tätowieren lassen, fasst herrlich zusammen, was mir in der kurzen gemeinsamen Zeit auch klar geworden ist: "Life is not measured by the breaths that we take, but by the moments that takes our breath away." Was auf Deutsch heißt: "Das Leben wird nicht an den Atemzügen gemessen, die wir machen, sondern an den Momenten, die uns den Atem rauben."

Ich habe viele schöne Momente erlebt, die mich haben innehalten lassen. Ich habe gestaunt, genossen und gelernt. Und so formen meine Lippen ein "Hoffentlich auf sehr bald!"

MDR (maw)

Die Episode zum Nachhören

Daniel, Roland Schulze und Marion stehen an den ersten Ausstellungsstücken der Dauerausstellung. Herr Schulze und Daniel tragen weiße Handschuhe, um die Stücke ohne Schaden zu berühren. 25 min
Gleich zu Beginn eine Aufgabe für Daniel: Er soll den Herstellerschriftzug auf den Automobilen aus dem Jahr 1911 durch Tasten erraten. Bildrechte: MDR/Amac Garbe

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Der Tag | 14. Oktober 2022 | 12:31 Uhr

Mehr hörenswerte Podcasts