Dienstags direkt | 09.05.2023 | 20 - 23 Uhr Vereint, vergrößert, versagt - Ist Europa mehr als nur eine gute Idee?
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07. Mai 2023, 20:08 Uhr
Wenn Sie an Europa denken, was fällt Ihnen als erstes ein? Freiheit über Grenzen hinweg oder Regelflut aus Brüssel? Europa und die Europäische Union stehen an einem Scheideweg. Veränderungen werden diskutiert. Bringt dieser Diskurs den Gedanken eines geeinten Europas zum Wanken? Was könnte das für uns bedeuten? Darüber haben wir am Dienstagabend gesprochen.
Europa lebt
Der Gedanke vom geeinten Europa lebt. Zum Beispiel bei der überparteilichen unabhängigen Organisation Europa-Union Deutschland (EUD). Es ist die größte Bürgerinitiative für Europa in Deutschland. Dort engagieren sich rund 17.000 Mitglieder in 16 Landesverbänden. Etwa in der Jugend-Organisation der EUD - den Jungen Europäischen Föderalist-Innen (JEF). Emely-Marie Schäfer ist die Landesvorsitzende der JEF Sachsen. Für sie ist der europäische Gedanke mehr als nur eine Idee. Die 22-Jährige, die aus Großenhain stammt, studiert an der Technischen Universität Dresden Politikwissenschaft und Kommunikationswissenschaft. Sie organisiert europapolitische Veranstaltungen.
In bin Europäerin durch und durch, weil die Europäische Union für mich grenzübergreifende und grenzüberschreitende Zusammenarbeit sowie Unterstützung bedeutet. Das heißt auch Frieden und Freiheit.
Wie kam es zu der Idee vom geeinten Europa? Wie konnte diese Idee nach dem Schrecken des 2. Weltkrieges aus starken Nationalstaaten und nationalen Interessen entstehen? "Geschichte wiederholt sich", heißt es landläufig: Wie stark ist eines geeintes Europa gegenüber nationalen Interessen? Sind nationale und europäische Interessen dauerhaft in Einklang zu bringen? Können sich geschichtliche Irrwege erneut eröffnen? Prof. Dr. Dirk van Laak - Inhaber des Lehrstuhls für die Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts an der Uni Leipzig - gibt Einblicke in die Historie Europas.
Wer sich noch an die vielen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts mit Nationalismus, Grenzziehungen und Kriegen erinnern kann, muss es geradezu für ein Wunder halten, wie sich Europa seit über 70 Jahren aufeinander zubewegt. Etwas Ähnliches ist jedenfalls noch nie zuvor versucht worden.
Eurozone - Stabile Zone?
Für Prof. Dr. Dirk Meyer ergeben sich auch 2023, 21 Jahre nach der Euro-Einführung, viele Fragezeichen im Zusammenhang mit der Europäischen Gemeinschaftswährung. Der Professor für Volkswirtschaftslehre von der Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr in Hamburg war 2010 an zwei Verfassungsklagen beteiligt, die sich gegen die Euro-Rettungsschirme für Griechenland richteten und gegen den Europäischen Stabilisierungsfonds EFSF.
Die EU und der Euro galten als Friedensprojekt. Die Aufnahme neuer und stark unterschiedlicher Mitglieder hat zu Interessenunterschieden geführt, die mit dem Prinzip 'ein Land, eine Stimme' nicht mehr handhabbar sind. Ein Rückbau ist unumgänglich.
Meyer, der frühere Berater der AfD, regelmäßige Kolumnist in der Wochenzeitschrift "Junge Freiheit" und Euro-Kritiker, zeigt in seinem 2022 erschienenen Buch "Europäische Union und Währungsunion in der Dauerkrise" in einer Bestandsaufnahme Probleme in der Euro-Zone auf (Bd. I) und entwirft mögliche Szenarien für die Zukunft des Euro (Bd. II).
Für viele Menschen ist die gemeinschaftliche Währung seit 2002 aber auch ein verbindendes Element auf dem Kontinent. Bequemes Einkaufen im Urlaub in vielen Ländern Europas - ohne vorher Geld tauschen zu müssen. Vergleichbarkeit von Preisen und Löhnen. Dr. Gabriele Widmann, Volkswirtin der DEKA-Bank, hat einen positivistischen Ansatz zum Euro.
Brüssel - das Herz Europas?
"Das Herz von Europa schlägt in Brüssel!", sagt Matthias Reiche. Er ist derzeit Korrespondent im ARD-Studio Brüssel und hat ganz eigene Erfahrungen und Erlebnisse mit der Stadt, den Abgeordneten und dem Parlament gemacht.
Zeit für neue Allianzen?
Der russische Angriffskrieg hat das Denken in Europa verändert. Er brachte Energie-Versorgungsprobleme und einen Flüchtlingsstrom aus der Ukraine. Bis 1989 gab es klare Allianzen getrennt durch den eisernen Vorhang. Sind 2023 neue Allianzen in Europa notwendig?
Am Anfang war: Ein Holzgatter und Gulasch - Reisen in Europa ohne Grenzen
Ein Holzgatter, Bier, Wein und Gulasch - und Walburga Habsburg Douglas. Die Enkelin des letzten Kaisers von Österreich und Königs von Ungarn erlebte das Paneuropäische Picknick in Sopron in Ungarn hautnah mit. Sie sah mehrere hundert DDR-Bürger am 19. August 1989 in die Freiheit flüchten. Sie vertrat ihren Vater Otto von Habsburg beim Paneuropäischen Picknick. Ihr Vater war einer der Mitorganisatoren dieser Veranstaltung. Damals ahnte noch niemand, dass nach der dreistündigen Grenzöffnung an dem Tag die größte Flüchtlingswelle von DDR-Bürgern an der ungarisch-österreichischen Grenze seit dem Mauerbau einsetzen würde.
Die Begeisterung der Leute, wie sie rüber gelaufen sind - mit ihren Kindern - war fantastisch zu sehen.
Der Wunsch vieler DDR-Bürger, frei - ohne Grenzkontrollen - durch Europa reisen zu können, wurde im geeinten Europa Wirklichkeit. Beruflich sind es vor allem Fernfahrer - meist Männer, auch wenn inzwischen einige Frauen im Fahrerhaus eines Sattelschleppers quer durch Europa touren. Wie schaut ein sächsischer Spediteur wie Andreas Hanitzsch aus Kesselsdorf auf das Europa von heute und diesen Job - angesichts gestiegener Kosten, Maut-Gebühren und dem Druck durch Billig-Konkurrenz?
Das Thema Lohn-Dumping ist eines der größten Probleme, das wir in Europa haben.
Fast ein Europa im Kleinen
Die Flagge der Europäischen Union mit ihren zwölf Sternen soll Vielfalt und Zusammenhalt zugleich symbolisieren. Kulturelle Vielfalt leben und Menschen zusammenführen ist ein Anliegen der Leipzigerin und Wahl-Italienerin Kristina Schmidt. Schon vor dem Mauerfall hatte sie die Idee, die engen Grenzen des eigenen Lebens zu sprengen. Ihre Ausreise fiel zeitlich mit dem politischen Umschwung zusammen. Nach einigen Jahren im Westen Deutschlands, zog es sie nach Italien.
Seither hat sie in einer Dorfgemeinschaft in der Toskana dafür gesorgt, dass die Region vom Tourismus partizipiert. In einem neuen Projekt unterstützt sie Menschen aus ganz Europa dabei, in ihrer Wahlheimat ein neues Zuhause zu finden. Ungeachtet eines durchaus vorhandenen Nationalstolzes "ihrer Italiener" funktioniere das Zusammenleben mit den neuen Siedlern aus Irland, Großbritannien, Ungarn, Polen oder Deutschland sehr gut, sagt sie. Und es seien längst nicht nur Senioren, die den Landstrich für sich entdecken. So langsam entstehe dort fast so etwas wie ein Europa im Kleinen.
Unsere Gäste:
- Prof. Dr. Dirk van Laak | Professor für Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts an der Universität Leipzig
Wer sich noch an die vielen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts mit Nationalismus, Grenzziehungen und Kriegen erinnern kann, muss es geradezu für ein Wunder halten, wie sich Europa seit über 70 Jahren aufeinander zubewegt. Etwas Ähnliches ist jedenfalls noch nie zuvor versucht worden.
- Emely-Marie Schäfer | Landesvorsitzende der Jungen Europäischen Föderalisten (Jugend-Organisation der überparteilichen Europa-Union)
In bin Europäerin durch und durch, weil die Europäische Union für mich grenzübergreifende und grenzüberschreitende Zusammenarbeit sowie Unterstützung bedeutet. Das heißt auch Frieden und Freiheit.
- Prof. Dr. Dirk Meyer | Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre (insbesondere Ordnungsökonomie) an der "Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr" in Hamburg
Die EU und der Euro galten als Friedensprojekt. Die Aufnahme neuer und stark unterschiedlicher Mitglieder hat zu Interessenunterschieden geführt, die mit dem Prinzip 'ein Land, eine Stimme' nicht mehr handhabbar sind. Ein Rückbau ist unumgänglich.
Interviewpartner:
Matthias Reiche | Korrespondent ARD-Studio Brüssel
Andreas Hanitzsch | Geschäftsführer der Spedition Hanitzsch in Kesseldorf
Dr. Gabriele Widmann | Volkswirtin bei der DekaBank
Prof. Dr. Sönke Neitzel | Militär-Experte der Uni Potsdam
Kristina Schmidt | Immobilienmaklerin aus Leipzig, die in der Toskana lebt
Moderation:
Redaktionelle Mitarbeit: Alexander Schubert
Leitung: Ines Meinhardt