MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 07.12.2021 | 20:00 - 23:00 Uhr Not kennt kein Gebot - Wie viel Platz bleibt in Krisen für ethische Fragen?
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Täglich häufen sich die Meldungen, dass die Intensivstationen überlaufen. Das Pflegepersonal sowie die Ärztinnen und Ärzte arbeiten am Limit. Die Bundeswehr springt ein. Patienten werden mit Flugzeugen im Land verteilt. Das deutsche Gesundheitssystem kommt an seine Grenzen.
Suche nach neuen Wegen
Wenn plötzlich nicht mehr alle medizinisch möglichen Register gezogen werden können, wenn Tumoroperationen verschoben werden, und sich die Wartezeiten in den Notaufnahmen verlängern, wirft das Fragen zu Ethik, Verantwortung und Einordnung unserer gesellschaftlichen Zwangslage auf. Viele fühlen sich dabei auf einem unsicheren Terrain - zwischen Vertrauen in die Wissenschaft, Hoffen auf neue Lösungen und enttäuschten Erwartungen. Die Suche nach Antworten ist schwierig, wenn die Positionen verhärtet und sich Lager unversöhnlich gegenüberstehen. Oder sind wir Gespräche und Auseinandersetzungen dieser Art einfach nicht mehr gewohnt?
Hinter den Zahlen und Prozessen stecken persönliche Schicksale. Wer möchte die Verantwortung übernehmen und Patienten selektieren? Am Ende stehen Ärzte und Pflegepersonal vor dieser Herausforderung. Wir als Gesellschaft müssen also Verantwortung delegieren und auf die treffsichere Entscheidung im Einzelfall vertrauen. Doch wie verändert sich eine Gesellschaft, die bislang gewohnt war: vor dem weißen Kittel sind alle gleich und kein Therapieansatz ist zu teuer. Im ersten Schritt sollte uns bewusstwerden: Was erwarten wir vom Gesundheitssystem? Inwieweit können wir selbst Vorsorge im System betreiben? Wollen wir Lebensverlängerung um jeden Preis? Was ist uns eine optimale Versorgung wert? Hält unser Generationenvertrag? Ist eine private Vorsorge nötig? Darf sich jemand aus der gesetzlichen Versicherung freikaufen?
Ein altes Thema mit aktueller Brisanz
Seit über 30 Jahren wächst das Bedürfnis an ethischen Fragen von internationaler Relevanz. Zudem wurde die zentrale Bedeutung einer breiten gesellschaftlichen Debatte angesichts aktueller Herausforderungen – wie beispielsweise der SARS-CoV-2-Pandemie – besonders deutlich. Bedürfnisse und Wünsche passen nicht mehr so, wie wir es bislang erfahren haben. Welche Würde, welchen Wert können wir Patienten heute noch entgegenbringen, wenn Medizin unter Kostendruck steht und Kliniken wie Unternehmen funktionieren sollen? Wie kann die Kommunikation mit Patienten und deren Versorgung zu aller Zufriedenheit gelingen, wenn das Personal am Limit arbeitet?
Diskutieren wir auf einem zu hohen Niveau?
Abgesehen von der Tatsache, dass in vielen Ländern die medizinische Unterversorgung eine solche Diskussion entbehrlich werden lässt, wurde sie in Deutschland kaum geführt. Auch weil sie nicht geführt werden musste. Allenfalls bei schweren Unfällen oder im Katastrophenfall kommt es zu einer Einteilung, um mit den Ressourcen verantwortungsbewusst umzugehen. Während der Pandemie hat sich die Situation nun verändert.
Ein realistischer Blick in die Zukunft
Heute kann davon ausgegangen werden, dass ca. 200.000 Pflegekräfte in den Kliniken und ambulanten Pflegediensten fehlen. Nach gegenwärtigen Schätzungen wird sich diese Zahl in den kommenden acht Jahren mehr als verdoppeln. Das legt zumindest die Vermutung nahe, dass sich an der Situation für die Patienten selbst nach einem möglichen Ende der Pandemie nicht automatisch die Versorgungssituation ändert.
In den letzten Jahren wurden Richtlinien entwickelt, wie Therapien im Ablauf optimiert werden können, Liegezeiten wurden verkürzt. Was sich wenig optimieren lässt, ist die ständige Pflege. Aber gerade hier wird immer weiter optimiert. Beispielsweise müssen Pflegedienste wirtschaftlich arbeiten, wenn sie eine Chance auf dem Markt haben wollen – das muss im Zweifel zu Lasten der "Kunden" gehen.
Oft wird vergessen: Die Pflege bleibt individuell und eine ganz persönliche Angelegenheit. Neben Sachverstand und Erfahrung ist bei der Arbeit viel Empathie gefordert. Eine Belastung nicht nur für die Fachkräfte, auch für deren Familien. Fast 10.000 Pflegekräfte haben während der Pandemie gekündigt.
Das waren unsere Gäste:
Erik Bodendieck | Präsident der Sächsischen Landesärztekammer, Facharzt für Allgemeinmedizin
Prof. Frank Ulrich Montgomery | Ehrenpräsident der Bundesärztekammer, Facharzt für Radiologie
Moderation:
Redaktionelle Mitarbeit: Stephan Wiegand
Leitung: Ines Meinhardt
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | Dienstags direkt | 07. Dezember 2021 | 20:00 Uhr