MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 16.11.2021 | Nachhören Die Logik der Logistik 2021 – zwischen Kaufrausch und Lieferkettenproblemen
Hauptinhalt
Bei Bestellungen in Onlineshops sind wir daran gewöhnt, dass alles schnell und reibungslos abläuft. Wir staunen kaum noch darüber, dass ein nachmittags bestellter Artikel schon am Tag darauf in unsere Hände gelangt. Im Gegenteil – wenn es mal wieder länger dauert, sind wir verärgert.
Dabei stoßen wir mit jedem Kauf einen komplexen Prozess an, in dem vieles - aber längst nicht alles - digital abläuft. Vor allem in den Lagern und auf der "letzten Meile" sind Menschen gefragt und dabei geht es oft nicht immer "menschlich" zu.
Geklickt – gezahlt – geliefert!
Als Kunden haben wir es meist nur mit dem Überbringer der Ware zu tun. Oft geschieht selbst das ohne direkten Kontakt, wenn zum Beispiel Paketstationen genutzt oder Ablageorte vereinbart werden. Was in Pandemiezeiten hilft, Kontakte zu reduzieren, lässt vergessen, dass in die Lieferkette viele Menschen eingebunden sind.
"Wenn der Kunde eine Mail bekommt, dass die Bestellung bearbeitet wird, habe ich die ausgelöst als ich die Ware aus dem Regal genommen und gescannt habe", sagt Daniel, der undercover für das "Team Wallraff" bei Amazon im Lager gearbeitet hat. Dabei hat er erlebt, wie sehr die Leistung der Arbeitskraft im Focus ist und wie wenig der Mensch. Teil der TV-Doku war auch Reporter Alex, der ebenfalls inkognito als Fahrer für den Online-Riesen gearbeitet hat. Dabei erlebte er am eigenen Leib, wie wichtig der Faktor Zeit für das Subunternehmen ist, bei dem er angestellt war. Ähnliches erfuhren die Autoren einer MDR-Dokumentation, die den Alltag von Paketfahrern beleuchtet. Eine der Autorinnen, Juliane Maier-Lorenz sagte:
Der Film aus der Reportagereihe "Exakt- Die Story" ist in der Mediathek verfügbar.
Prinzip der Subunternehmen hat Methode
In der Branche ist es üblich, weit über die Regelarbeitszeit hinaus unterwegs zu sein, bestätigt auch Tina Morgenroth. Sie arbeitet in der Beratungsstelle "Faire Mobilität" in Thüringen und kennt die Sorgen und Nöte gerade der Paketfahrer, die mit einer Migrationsgeschichte hinter dem Lenkrad eines Lieferwagens landen. Das vom DGB unterstützte Projekt hat seit Jahren Erfahrung mit der Situation der Paket- und Lieferfahrer, die aus dem Ausland nach Deutschland kamen. Auch in Sachsen haben diese jetzt eine Anlaufstelle, die sich um die Sorgen und Nöte der meist männlichen Fahrer kümmert: das BABS – die Beratungsstelle für ausländische Beschäftigte.
Zweierlei Maß in Handel und Online-Handel
Kunden kommt ein Unterschied zwischen stationärem Handel und Onlineshops entgegen. Während man sich analog durch Einkaufsstraßen oder Shopping-Center quält, geht es digital bequem vom Sofa aus. Inzwischen ist Amazon dabei für viele Online-Käufer der erste Anlaufpunkt. Diejenigen, die bei dem Online-Riesen ihr Geld verdienen, werden allerdings nicht als Beschäftigte im Handel betrachtet.
Das ist für die Gewerkschaft ver.di seit mehreren Jahren Anlass für Streiks. Jörg Lauenroth-Mago, der für die Gewerkschaft in Sachsen den Bereich Handel vertritt, sieht darin einen Skandal. Er fordert von der Politik, die Tarifverträge des Einzel- und Versandhandels als allgemeinverbindlich zu erklären, damit sie auch für Amazon gelten.
Wandel dringend geboten
Der Online-Handel ist ein Grund dafür, dass immer mehr Waren durch die Welt transportiert werden. Auch die Industrie hat sich darauf eingestellt, ihre Lieferanten nach dem Kostenfaktor auszuwählen – lange Transportwege werden in Kauf genommen, wenn am Ende der Gewinn stimmt. Stellt sich die Frage, ob der Bogen nicht schon überspannt ist.
Die Corona-Pandemie und andere Ereignisse haben gezeigt, wie störanfällig die Lieferketten sind. Hängt ein Containerschiff im Suezkanal fest oder sind die Häfen geschlossen, stockt der weltweite Warenfluss. Leere Lager, steigende Preise und der Mangel an ausgebildetem Personal verteuert die sonst so auf billig getrimmte Welt der Logistik. Dabei ist die Zukunft der Branche zwar nicht golden aber gut – sagen Experten aus der Branche.
"Digitalisierung und damit die Technologie ist der Veränderungstreiber Nummer 1 in der Logistik", sagt Markus Meißner, Geschäftsführer beim Softwareanbieter AEB im Interview mit MDR SACHSEN. Er war im August zum Treffen der sogenannten Logistik-Weisen in Dresden. Matthias Klug von der KION-Group, der ebenfalls zu diesem Expertenkreis gehört, ergänzt, dass gerade in der Lagerlogistik moderne Technologie die Arbeit erleichtert und auch sicherer macht. Automatisierte und teilautomatisierte Systeme nehmen Beschäftigten körperlich belastende "Handgriffe" ab und sorgen so dafür, dass ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter länger im Beruf bleiben können.
Die Logistik-Weisen stellen ihre Expertise regelmäßig der Politik zur Verfügung. Ihre Prognose: der Knoten in der Lieferkette löst sich bis Mitte 2022. Dann kann der Wachstumspfad weiter beschritten werden.
Digitaler Wandel und analoge Probleme
Stefan Iskan ist an der Hochschule für Wirtschaft und Gesellschaft Professor für Logistik und Wirtschaftsinformatik. Sein Vater hatte eine eigene Spedition und verbrachte viel Zeit in der Firma. Ein Frühstücksdirektor sei er jedenfalls nicht gewesen, so Iskan. Auch wenn er selbst die Lagerhalle gegen den Lehrstuhl getauscht hat, den Bezug zur Praxis hält der Professor. Er sieht in der Logistik ganz klar eine Zukunftsbranche.
So betitelte er auch sein Buch, das im August im Campus-Verlag erschienen ist. Allerdings gäbe es viele Baustellen. Das beginne bei nicht kompatiblen Daten und fehlenden Normen, gehe über Mängel in der Infrastruktur und vertane Chancen bei der Kombination Straße-Schiene bis hin zu ungenau definierten Berufsbildern. Die Digitalisierung sei zwar eine Chance aber kein Allheilmittel, so Iskan. Den LKW-Fahrer-Mangel könne man z.B. nicht mit Softwarelösungen beheben. Auf marode Straßen, fehlende Rastplätze und Warteschlangen vor Lagerhallen habe bisher noch kein StartUp eine Antwort gefunden.
Fahr‘n, fahr‘n, fahr‘n auf der Autobahn
Der Fahrermangel ist inzwischen ein internationales Problem. Zunächst bekamen es die Briten zu spüren, als aufgrund von Brexit und später Corona die ausländischen Fahrer wegblieben. Inzwischen ist das Problem in mehreren Ländern angekommen. Auch, wenn viele LKW noch deutsche Papiere haben, bei den Fahrern ist es längst nicht so. Logistikprofessor Iskan kennt Fälle, in denen selbst polnische Laster nicht mehr von polnischen Fahrern gelenkt werden, sondern von Fahrern aus der Ukraine. Inzwischen zahlten einige Spediteure sogar "Kopfprämien" an ihre Fahrer, wenn diese Fahrer anderer Unternehmen abwerben. Die Lage wird sich nicht so schnell ändern, zumal es auch in dieser Branche eine Überalterung gibt. Fast ein Drittel der Berufskraftfahrer in Deutschland sind älter als 50 Jahre.
Auch sonst ist das Geschäft nicht leichter geworden. Vor allem die mittelständischen Speditionen können kaum noch davon leben, sagt Andreas Faust, der mit seinem Bruder den Familienbetrieb in Rabenau weiterführt. Die Firma ist auf Schüttguttransporte für die Baubranche spezialisiert. In diesem Jahr schrumpften die ohnehin schon geringen Margen weiter. Da die Preise zu Jahresbeginn verhandelt würden, schlage die Inflation und die Verteuerung der Kraftstoffe voll durch. Dazu kämen stetig steigende Anforderungen seitens der Behörden. Das fresse Zeit und binde Ressourcen. Investitionen z.B. in klimafreundlichere Fahrzeuge seien da kaum zu stemmen.
Das waren unsere Gäste:
Prof. Stefan Iskan | Professur für Logistik und Wirtschaftsinformatik,
insbes. Automotive Supply Chain Management und Digitalisierung und Autor des Buches "Zukunftsbranche Logistik - Zwischen digitaler Industrialisierung und analoger Herausforderung"
Juliane Maier-Lorenz | Autorin, investigative Journalistin
Jörg Lauenroth-Mago | Landesfachbereichsleiter Handel ver.di - Landesbezirk Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen
Undercover-Reporter "Daniel" und "Alex" vom "Team Wallraff"
Das System Amazon ist auf Ausbeutung der eigenen Mitarbeiter und auf extreme Überwachung ausgelegt.
Moderation & Redaktion:
Leitung: Ines Meinhardt
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | Dienstags direkt | 16. November 2021 | 20:00 Uhr