Donnerstag, 20.01.2022: Alltäglichkeit des Bösen                                               

Jesus spinnt.
Er lädt sich zum Essen bei denen ein, die keiner leiden kann, er berührt Leute mit ansteckendem Exzemen, er hört auf niemanden und auf alle, schickt seine Leute über jede Türschwelle und Landesgrenze, hält sich an keine Regeln und jeden Buchstaben des Gesetzes.
So kommt letztendlich auch seine eigene Familie zu dem Schluss: "Er ist von Sinnen."

"Sie ist von Sinnen", wurde gerufen, als Hanna Arendt ihren Bericht über den Prozess von Adolf Eichmann aus dem Jahr 1963 den Titel gab: "Die Banalität des Bösen". Eichmann war während des zweiten Weltkriegs für die Transporte der europäischen Juden in die Vernichtungslager zuständig. Diesen Mann und sein Handeln bezeichnet Arendt als "Banal". - Sie spinnt.

Arendt sieht in Eichmann einen Mann, der weder besonders klug, noch besonders ehrgeizig, gerissen oder gehässig ist. Er ist aber auch nicht besonders dumm, nicht naiv, sodass er nicht gewusst hätte, was er tat. Nein.

Es erschien ihm einfach nur logisch: Er hatte gehört, wie die Welt zu sein hatte, wer richtig und wer falsch lag, wen er hassen sollte und wen lieben. So hat er die Mauer seines Weltbilds aufgebaut. Einen Gedanken außerhalb dieses Gemäuers zu bewegen - das vermied er.
Sein Weltbild wäre eingestürzt - und so etwas ist äußerst unangenehm.

Hier liegt das Banale, das Alltägliche des Bösen: Es kann sich einschleichen in mein Denken. Hier und da einen Stein beitragen zu dem Gerüst, das ich mir baue. Hier etwas Gewissheit, wer Recht hat und wer nicht, dort etwas Verachtung für diesen oder jenen - das alles gibt mir Halt, macht mich sicher, fest.

Wenn ich es aber wage einen Schritt zurücktrete, aus meinem Alltagsdenken - mir das Gemäuer anschaue, in dem ich leben – dann spüre ich vielleicht etwas Beklemmung im Herzen. Das ist es eng geworden, der Sauerstoff scheint zu fehlen. Es ist gefährlich, dieser Schritt zurück. Aber vielleicht komme ich auf den Geschmack, die Dinge ganz anders zu sehen - ein bisschen zu spinnen.

Das Wort zum Tag spricht in dieser Woche:

MDR SACHSEN - Das Sachsenradio Elisabeth Muche

Elisabeth Muche

Leiterin der Kontaktstelle für Lebens- und Glaubensfragen der katholischen Kirche in Leipzig. Ordensschwester in der Kongregation der Helferinnen.

Geboren am 11.06.1990 in Chemnitz | Aufgewachsen in Chemnitz| Journalistische Ausbildung am Institut für publizistische Nachwuchsförderung (ifp) 2011-2013 | Studium der Psychologie in Leipzig 2011 - 2016 | Ignatianische Ordensausbildung in Cergy, Frankreich und Wien, Österreich 2017 - 2019 | Erstprofess 2019 | seit September 2019 in der Leitung der Kontaktstelle in Leipzig

Verantwortlich für Verkündigungssendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie das Wort zum Tag...

... sind die Senderbeauftragten der evangelischen Landeskirchen, der evangelischen Freikirchen bzw. der römisch-katholischen Kirche.