Verkündigungssendung Das Wort zum Tag vom 13.-19.05.2019

Täglich hören Sie das Wort zum Tag. Montags bis freitags gegen 5:45 Uhr und 8:50 Uhr, am Sonnabend gegen 8:50 Uhr, sonntags 7:45 Uhr. Das Wort zum Tag spricht in dieser Woche Dr. Maria Heinke-Probst, am Sonntag Jörg Herrmann.

Das Wort am Sonntag, 19.05.2019

Als meine Großeltern noch lebten, wurde bei Familienfeiern gerne gesungen. Meine Cousins spielten Gitarre, und die Abenddämmerung verband sich mit Liedstrophen, die ich als Junge nicht immer ganz verstehen konnte: "Kein schöner Land in dieser Zeit / als hier das unsre weit und breit, / wo wir uns finden wohl unter Linden / zur Abendzeit." Warum, so fragte ich mich, ist es so wichtig, dass unser Land schöner ist als andere? War das so gemeint?

An die besondere Stimmung, die solche Lieder auslösten, kann ich mich noch gut erinnern. "Schön war's", sagte ich einmal zu meinem Cousin, der uns im Singen angeführt hatte. "Na ja", meinte der einschränkend, "es is" aber auch ganz schön Schmalz drauf." Ich merkte, dass er wohl eher den Großeltern zuliebe gespielt und gesungen hatte. Volkslieder, so schien es, sind aus der Mode gekommen.

Beeindruckend finde ich heute, wie gut ich mir die Texte gemerkt habe, einfach beim Zuhören und Mitsingen, ohne Noten oder Textblätter. Ich kann noch ganze Strophen hersagen: „Nehmt Abschied, Brüder, schließt den Kreis, / das Leben ist ein Spiel, / und wer es recht zu spielen weiß, / der kommt ans große Ziel.“ Ein Gedanke, der mir nachgeht, merke ich, denn gerade diese Strophe fiel mir neulich ein, und ich fand heraus, dass der Text in manchen Liederbüchern verändert wurde, weil jemand mit dieser Behauptung nicht einverstanden war: "… das Leben ist kein Spiel", wird da stattdessen festgehalten. Schade, mir ist ein spielerischer Umgang mit dem Leben sympathisch.

Ans Einschlaflied im Kinderzimmer kann ich mich noch erinnern. "Der Mond ist aufgegange" – meine Geschwister sangen hingebungsvoll mit, ein bisschen störte es mich, dass sie dabei das "A" so breitzogen, das gefiel mir nicht. Aber auch hier: Der Text sitzt bis heute. "Wir stolzen Menschenkinder / sind eitel arme Sünder / und wissen gar nicht viel. / Wir spinnen Luftgespinste / und suchen viele Künste / und kommen weiter von dem Ziel." Diese Strophe mag ich besonders", sagte ich eines Abends zu meiner Mutter. "Warum denn ausgerechnet die?", fragte sie verwundert, und ich meinte altklug: "Weil sie so wahr ist."

Die Tradition des Gutenachtliedes haben wir als Eltern übernommen, aber wenn ich mich richtig erinnere, nicht so regelmäßig durchgehalten. Vielleicht frage ich bei Gelegenheit mal, welche Erinnerungen unsere Kinder daran haben.

Begeistert berichteten Freunde von uns nach einem Urlaub in Irland, wie dort in für uns unbekannter Weise in Gaststätten gesungen wird, allabendlich, im Kreis mit fremden Menschen, ein Lied nach dem anderen, alle auswendig, den ganzen Abend lang. Das kenne ich so nur von Adventsfeiern, wenn die erzgebirgischen Liederbücher aufgetischt werden – aber von auswendig kann da keine Rede sein, nach der ersten Strophe wäre meistens Schluss. Und eine solche Fülle von Liedern, wie es in Irland üblich zu sein scheint, wird da auch nicht gesungen. Aber immerhin, das Singen von Volksliedern hat sich erhalten.

Erstaunt habe ich in einem Vortrag vernommen, dass es in Deutschland sehr viele Laienchöre gibt, in einer für andere Länder unüblichen Dichte. Seit ein paar Jahren gibt es in der Adventszeit Treffen von mehreren zehntausend Menschen in bestimmten Fußballstadien. Bei Kälte und ohne Sportereignis treffen sich die Leute zum Singen; weil auch hier nicht davon ausgegangen werden kann, dass die meisten textsicher sind, werden Liedblätter ausgeteilt.

Ich selbst weiß aus Chorproben, wie intensiv das Singen miteinander verbinden kann. Einmal hatte ich ausgesprochen wenig Lust, zu einer wieder anstehenden Probe zu gehen. Ich hatte noch Wichtiges zu erledigen und den Eindruck, dass mir die Zeit davonrennt. Ich überredete mich mühsam, trotzdem zu gehen. Während des Singens wurde ich ruhiger. Und nach der Probe war ich erstaunt, wie erfrischt ich aus ihr herauskam, und beglückwünschte mich, dass ich mich zu ihr durchgerungen hatte.

Singen ist gesund. Und es fördert, wie ich gehört habe, bei Kindern die Lernfähigkeit. Ich vermute: bei Erwachsenen auch.

Die meisten Menschen, wird behauptet, singen unter der Dusche. Spontan und unbeobachtet. Vorsingen in der Schule haben viele in schrecklicher Erinnerung. Ich selbst konnte es als Junge nicht leiden, zum Vorsingen in der Familie aufgefordert zu werden. Mitsingen war besser.

Überrascht bin immer wieder einmal, wie sicher und lautstark junge Leute bei Popkonzerten Liedtexte mitsingen. Den Refrain kann ich schon auch mal, aber ganze Textpassagen habe ich nicht drauf. Es scheint, als ob sich etliche eingehender mit den Songs beschäftigen, sie oft anhören und dabei möglicherweise das Booklet mitlesen. Mehr als einmal habe ich junge Leute sagen hören, dass ihnen ein bestimmter Liedtext aus der Seele spricht, ihr Lebensgefühl ausdrückt.

"Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder." Das kenne ich nicht nur als Sprichwort, sondern sogar als Kanon. Ich bin mir nur nicht sicher, ob das so stimmt: dass Singen und Bosheit sich gegenseitig ausschließen. Singen verbindet stark miteinander, und dass wirkt auch bei Hassgesängen auf der Fußballtribüne oder auf der Straße. Und es sollte wirken beim Marschieren im GST-Lager. Nie habe ich mich mehr gegen Singen gewehrt als dort.

Manchmal löst Musik oder Singen auch selbst Hass aus. Und zwar immer dann, wenn es um die leidige Geschmacksfrage geht. Daran merkt man besonders stark, wie eng Musik mit Gefühlen verbunden ist: Worin der eine schwelgt, das macht dem anderen Ekelblasen, und umgekehrt. "Es is' aber auch ganz schön Schmalz drauf." Das ist, denke ich, der häufigste Grund, warum nicht miteinander gesungen wird: wenn die gemeinsamen Lieder fehlen.

Als Kirchengemeinden beschäftigt uns das zurzeit sehr. In Gottesdiensten wird gesungen, natürlich. Aber was? Für immer mehr Menschen scheint sich am Musikgeschmack zu entscheiden, wohin sie zum Gottesdienst gehen. In manchen Gemeinden gibt es darüber Auseinandersetzungen. Die Leute wollen schon weiter gemeinsam Gottesdienst feiern, legen aber Wert darauf, dass "ihre Musik" darin vorkommt. Und das stört dann möglicherweise andere. Im Moment geht die Tendenz zu Liedern, die sich schnell einprägen, die leicht mitgesungen werden können und viele Wiederholungen haben. Schwerer haben es Lieder, die Nachdenklichkeiten zur Sprache bringen.

In Italien habe ich ein Stadtfest miterlebt, bei dem nach Musik getanzt wurde, und zwar von allen Generationen. Das Geheimnis dahinter war einfach, aber die Idee dazu muss man erstmal haben: Eine halbe Stunde lang lief zum Beispiel Rockmusik aus den sechziger und siebziger Jahren. Die entsprechende Generation versammelte sich auf der dafür freigehaltenen Wiese und konnte, natürlich, manche Passagen mitsingen. Nach einer Pause von etwa zehn Minuten gab es italienische Schlager, vielleicht aus den fünfziger Jahren oder zumindest in diesem Stil. Diesmal waren es die gemeinsam alt gewordenen Paare, die sich gemütlich im Takt dazu wiegten. Nach der nächsten Pause lief dreißig Minuten lang Diskobeat, jetzt waren die Jungen dran. Und immer, bei jeder der Musikphasen, war die jeweilige Generation nicht etwa allein auf der Tanzfläche. Die anderen ließen es sich nicht nehmen, die „Musik der anderen“ mit zu genießen. Der Wille war deutlich: Wir wollen gemeinsam feiern. Das Konzept ging voll auf. Der Platz war voll von Leuten, und über die Musik rümpfte niemand die Nase. Beeindruckend.

Von mir als Pastor wird erwartet, dass ich bestimmte Lieder kenne. Aber, wie gesagt, der gemeinsame Liedschatz hat sich auseinander entwickelt. "Was, das kennen Sie nicht auswendig? Das ist ja ’ne Schande!", meinte einmal missbilligend eine alte Dame zu mir. Ich versuchte mir mit der Behauptung zu helfen, dass ich halt andere Lieder auswendig kenne als sie. Aber sie hatte vermutlich recht: Ihr Repertoire war bestimmt größer als meines. Dabei habe ich oft genug Situationen erlebt, in denen es gut gewesen wäre, mehr auswendig zu kennen: Nicht immer habe ich ein Gesangbuch dabei, wenn ich Besuche mache. Und es gibt Besuche, da singe ich – alleine, also das, was ich als Junge nicht mochte – ich singe, weil es das ist, was noch geht. Verschwitzt liegt ein sehr gebrechlicher Mensch auf dem etwas verrutschten Kissen. Die Lippen bewegen sich, aber ich kann die Äußerungen nicht deuten. Ich stelle Fragen, auf die ich keine klaren Antworten bekomme. Ich streichle die blasse Hand, die auf der Bettdecke liegt, und auf die Frage: "Wollen wir etwas singen?", kommt so etwas wie ein Kopfnicken. Und dann stimme ich ein Lied an, von dem ich annehme, dass es bekannt ist. Und es klappt. Plötzlich funktioniert der Mund wieder. Die Liedzeilen setzen sich zusammen, nicht lückenlos, aber bestimmt und sicher. So muss ich doch nicht alleine singen: "So nimm denn meine Hände / und führe mich / bis an mein selig Ende / und ewiglich. / Ich mag allein nicht gehen, nicht einen Schritt. / Wo du wirst gehn und stehen, / da nimm mich mit."

Heute ist der Sonntag Kantate. "Kantate" ist Lateinisch und heißt: "Singet!" In vielen Kirchen finden heute besonders ausgestaltete Gottesdienste statt, die Chöre haben sich schon lange darauf vorbereitet und anspruchsvolle Stücke eingeübt. Es werden Psalmen gelesen und gesungen, in denen Singen und Musizieren das Thema ist. Es wird zum Lob aufgefordert: "Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in euren Herzen!"

Die gemeinsamen Lieder entstehen dadurch, dass gemeinsam gesungen wird. Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag Kantate!

Verantwortlich für Verkündigungssendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie das Wort zum Tag...

... sind die Senderbeauftragten der evangelischen Landeskirchen, der evangelischen Freikirchen bzw. der römisch-katholischen Kirche.