Selbstbestimmt"Behindert und aussortiert": Erinnerungen an eine Kindheit im Heim
Vor mehr als zehn Jahren ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft getreten. Inklusion ist in aller Munde, aber noch nicht immer Realität. Jahrzehntelang fristeten Menschen mit Behinderungen vielfach ein Schattendasein. Das Teilhabe nicht vorgesehen war, erinnert auch Klaus Brünjes. Wegen einer starken Gehbehinderung kam er 1963 als Kind in die Rotenburger Anstalten. Er erfuhr dort Zuwendung, aber auch Gewalt. Was er damals erlebte und wie die Stiftung Anerkennung und Hilfe Betroffene unterstützt:
"Da laufe ich auf den Händen. Das war typisch, denn richtig gehen konnte ich nicht. Und hier hatte ich nur einen Stock und diese Schienen." So blickt Klaus Brünjes zurück in seine Kindheitstage in den Rotenburger Anstalten. Auf Filmmaterial aus den 1960er-Jahren sieht man den Jungen beim Sport. Richtig laufen konnte er nicht, weil er im Alter von zwei Jahren an Kinderlähmung erkrankt war. 1963 kam er als sogenannter "Krüppel" in die Heil- und Pflegeeinrichtung der Inneren Mission, eine der größten in Niedersachsen. Seine Eltern konnten sich nicht um ihn kümmern: "Niemand wollte mich haben. Aufgrund meiner Behinderung durfte ich nicht im normalen Kinderheim bleiben." Auch der Besuch einer regulären Schule blieb ihm verwehrt. So wuchs Klaus Brünjes in den Rotenburger Anstalten auf und blieb sein Leben lang. Heute ist er 62 Jahre alt.
Wegen einer Gehbehinderung in die Anstalten
Bereits seit Mitte der 1950er-Jahre lebten mehr als 1.200 Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen in den Rotenburger Anstalten, die abgeschottet war von der Außenwelt und sich größtenteils selbst versorgte. Klaus Brünjes landete zunächst auf Station 1-7. Dort waren 51 schwer geistig behinderte Kinder auf engstem Raum untergebracht, wie er sich erinnert:
Es waren zu viele Kinder auf einem Haufen. Da war die Enge, es war laut. Viele schrien, weil sie Angst hatten, weil sie Schmerzen hatten. Ich habe mich dann immer auf den Flur verzogen.
Klaus Brünjes
Betreut wurden die Kinder von sogenannten Diakonissen, also von Schwestern und anderen Erzieherinnen. Halt und Kraft habe ihm die Stationsschwester Grete Martin gegeben, sagt Klaus Brünjes: "Für uns war die Stationsschwester die Mutter und sie war immer da. Es sei denn, sie war krank oder im Urlaub. Sie war der Strohhalm." Schwester Grete half Klaus durch eine Kindheit mit vielen Entbehrungen. Das prägt ihn bis heute.
Zusammengeschlagen auf der Jugendstation
Doch mit 12 Jahren musste Klaus Brünjes von der Kinder- auf die Jugendstation wechseln. Danach war alles anders: "Ich musste am Tisch gerade sitzen, kein Ton. In der Mittagspause hieß es: Kopf auf den Tisch von 13 Uhr bis halb drei. Wenn du den Kopf doch gehoben hast, gab es was mit dem Knüppel. Wir hatten auch eine Nachtwache, die sehr gewalttätig war. Das habe ich gleich am ersten Abend mitgekriegt.
Ich selber war auch einmal das Opfer. Und das war dann ganz komisch: Der hat mich erst zusammengehauen und ich lag da. Dann ist er zurückgekommen und saß heulend auf meinem Bett.
Klaus Brünjes
Gewalttätige Erzieher, Kollektivstrafen, Medikamentenmissbrauch, all das begegnete Klaus Brünjes in den Rotenburger Anstalten, neben "Menschen, die sich wirklich Mühe gegeben haben". Kaum leichter zu ertragen waren die Tristesse und der Mangel an Möglichkeiten, sich individuell zu entfalten.
Stiftung Anerkennung und Hilfe leistet Entschädigung
Klaus Brünjes ist einer von vielen, denen Leid und Unrecht widerfahren ist. Doch nicht nur in den Rotenburger Anstalten, sondern deutschlandweit haben Menschen in Einrichtungen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien Ähnliches erlebt. Im Westen wie im Osten. Für sie wurde die Stiftung Anerkennung und Hilfe eingerichtet, Beratungsstellen gibt es in allen Bundesländern.
Wer bis heute unter den Folgen leidet, wird von der Stiftung finanziell unterstützt, erklärt Bettina Monse, Leiterin der Beratungsstelle in Sachsen. Sie hat schon hunderte Gespräche mit Betroffenen geführt. Es gehe darum, erlebtes Unrecht offiziell anzuerkennen: "Es ist eine symbolische Entschuldigung, die aber jeden persönlich meint. Natürlich kann man in dem Sinne ja nichts entschädigen, oder die Erinnerung auslöschen. Wir versuchen zu helfen, dass die Menschen mit ihren Erfahrungen anders umgehen können. Die Hilfen stellen vielleicht eine neue positive Erfahrung dar, die sich im besten Fall über die alte versöhnlich drüber legt."
Die Stiftung Anerkennung und HilfeDie Stiftung Anerkennung und Hilfe richtet sich an Menschen, die als Kinder und Jugendliche zwischen 1949 und 1975 in der Bundesrepublik Deutschland bzw. zwischen 1949 und 1990 in der DDR in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie untergebracht waren und heute noch an den Folgen leiden.
Die Stiftung hat in allen Bundesländern Beratungsstellen.
Das Infotelefon ist erreichbar unter 0800 221 2218
"Wir haben heute die Freiheit, viele Dinge selber zu entscheiden"
Auch Klaus Brünjes hat die Hilfe der Stiftung in Anspruch genommen. Und er hat sich ein selbstbestimmtes Leben erkämpft. In den 1970er-Jahren wechselte er die Seiten und wurde Mitarbeiter in den Rotenburger Anstalten. Er hat seinen Schulabschluss nachgeholt, den Führerschein gemacht und sein eigenes Haus gebaut. Heute ist er Arbeitsgruppenleiter in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung: "Menschen anzuleiten, Menschen helfen, dass sie sich weiter zu entwickeln, das gibt mir unwahrscheinlich viel. Ich mache das jetzt seit 43 Jahren. Wir haben heute die Freiheit, hier viele Dinge selber zu entscheiden. Und das ist die Sahne auf der Torte."
Den Schattenseiten sollte man sich dennoch stellen, findet er. Ehrenamtlich betreut Klaus Brünjes deswegen auch das Bildarchiv der Rotenburger Werke und setzt sich mit Herz und Seele für die historische Aufarbeitung der Geschichte der Einrichtung ein.
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Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt - Die Reportage | 24. April 2022 | 08:00 Uhr